Startseite junge Welt Ausland

12.05.2001

Sanktionstod im Zweistromland
»Irak - Ein belagertes Land.« Neuer Stoff für eine Kontroverse. Von Peter Preiß

*** Rüdiger Göbel, Joachim Guilliard, Michael Schiffmann (Hg.): Irak - Ein belagertes Land. PapyRossa-Verlag, Köln Mai 2001. 243 Seiten, DM 28 (ISBN 3-89438-223-6)

Die Aufforderung namhafter Völkerrechtler und demokratischer Wissenschaftler an die Bundesregierung in Berlin, das Embargo gegen den Irak ob seiner katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung nicht länger zu beachten (siehe junge Welt vom 28. Februar 2001), hat in Teilen der Friedensbewegung und bei sogenannten Nichtregierungsorganisationen eine zum Teil heftige Debatte ausgelöst.

Hans Branscheidt von medico international etwa moniert, in den entsprechenden Stellungnahmen würden Forderungen bezüglich einer Änderung des irakischen Regimes fehlen, und andere Teile der Kurdistan-Solidarität zürnen, daß mit dem Leid der irakischen Bevölkerung ein »humanitärer Sachzwang« geschaffen werden soll, den Terror des Saddam- Regimes zu verharmlosen.

Gezielt gestreute Mutmaßungen der letzten Wochen, die Kampagne gegen das Irak-Embargo komme im Prinzip vom rechten Rand, oder sie sei antisemitisch, entpuppen sich bei genauerer Recherche als gegenstandslos. Dennoch waren sie rasch bei der Hand, und sie dürften sich auch noch eine Weile halten. Die altrömische Taktik, nur mit genügend Dreck zu werfen, es wird dann schon irgend etwas hängen bleiben, ist offensichtlich.

Doch wenn auch von dem ein oder anderen mehr als Glaubenskrieg wider Saddam Hussein betrieben, ist die Kontroverse um das Irak-Embargo zu begrüßen. Immerhin hat sie einen verschwiegenen Krieg wieder an die Öffentlichkeit gebracht. Mehr als 200 Organisationen und namhafte Vertreter der deutschen Friedensbewegung haben sich mittlerweile dem Aufruf »Embargo gegen den Irak beenden« angeschlossen (siehe im Internet: www.embargos.de). Man täte den Unterzeichnern unrecht, würde man ihnen unterstellen, sie würden das politisch brisante Dilemma nicht sehen, daß die Aufhebung der tödlichen Sanktionen die Spielräume eines repressiven Regimes erweitern kann. Doch darf daraus folgen, daß eine illegale und todbringende Blockade fortgesetzt wird?

Joachim Guilliard, einer der Initiatoren des Aufrufs, betont nachdrücklich, unabhängig davon, was man vom irakischen Regime halte und welche Veränderungen man in dem Zweistromland anstrebe, das Embargo sei nicht nur kein geeignetes Mittel, sondern selbst ein Verbrechen, unter dem zum Teil genau diejenigen leiden, die man vorgibt, schützen zu wollen.

Guilliard hat nun zusammen mit dem Übersetzer Michael Schiffmann und Rüdiger Göbel von der Tageszeitung junge Welt ein Buch über die Folgen der Embargopolitik vorgelegt, das sich sehen lassen kann. Auf über 240 Seiten präsentieren sie unter dem Titel »Irak - Ein belagertes Land« erstmals in deutscher Sprache eine Sammlung authentischer Quellen zur Lage der irakischen Bevölkerung nach zehn Jahren Sanktionen. Das Buch dokumentiert eindringlich ein weithin verschwiegenes fragwürdiges Kapitel internationaler Politik.

Es vereint Autoren wie die UNO-Diplomaten Hans von Sponeck und Jutta Burghardt, die im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Embargo von ihren Koordinationsfunktionen zwischen den Vereinten Nationen und dem Irak zurückgetreten sind, den ehemaligen US-Justizminister Ramsey Clark, den Sozialwissenschaftler Noam Chomsky, Journalisten wie Felicity Arbuthnot, John Polger, und Robert Fisk, sowie Stimmen aus dem Irak selbst - letzteres ein Tabubruch, den die fleißigen Kritiker der Sanktionsgegner wohl mit Genuß geißeln werden.

Die Tragödie im Irak spielt sich »scheinbar innerhalb des durch die Vereinten Nationen abgesteckten Rechtsrahmens ab«, schreibt der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech. »Die am 6. August 1990 erstmals durch den UNO- Sicherheitsrat verhängten Wirtschaftssanktionen, die auch nach der Vertreibung der irakischen Truppen aus Kuwait aufrechterhalten wurden, dauern immer noch an. Bereits nach zwei Jahren hatten sie tiefe Spuren in der irakischen Gesellschaft hinterlassen: wachsende Verarmung, Unterernährung, unzureichende medizinische Versorgung und hohe Sterblichkeit vor allem bei Kindern. Im Juni 1999 meldete das irakische Gesundheitsministerium mehr als eine Million Todesopfer infolge der Sanktionen, deren Auswirkungen auch durch das zwischenzeitlich gebilligte Programm >Lebensmittel für Erdöl< nicht wesentlich gemildert werden können.« Die verantwortlichen Diplomaten der Vereinten Nationen, Hans von Sponeck und Jutta Burghardt sowie Denis Halliday, die selbst im Irakt tätig waren, bekräftigen in ihren Buchbeiträgen die hier zitierten Aussagen nachdrücklich.

Aufgrund der anhaltenden US-amerikanischen Obstruktionspolitik könne sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht zu einer Revision seiner Sanktionspolitik entschließen. Obwohl diese, so Paech, »alle humanitären Standards, an die sich auch Sanktionen des Sicherheitsrats zu halten haben, im Laufe der Jahre verlassen« hat.

Was sind die Motive und Konsequenzen der US- amerikanischen Irak-Politik sowie der anhaltenden Zerstörung des Zweistromlandes, fragen die beiden US-amerikanischen Wissenschaftler und Friedensaktivisten Noam Chomsky und Ramsey Clark. Öl, Öl, Öl und nochmals Öl, möchte man in aller Kürze sagen. Washington geht es um die strategische Kontrolle einer der wirtschaftlich wichtigsten und rohstoffreichsten Regionen der Welt. Nicht einmal in Ansätzen spielen der Schutz von Menschenrechten oder die Durchsetzung demokratischer Normen in diesem Powerplay eine Rolle, führen die beiden in ihren Aufsätzen über die Hintergründe des Golfkrieges und das Irak-Embargo gewohnt überzeugend aus.

Dr. Mona Kammas, Leiterin der pathologischen Abteilung der Universität Bagdad, erforscht im Irak die Auswirkungen kriegsbedingter Umweltbelastungen, insbesondere durch Uranmunition, auf die Gesundheit der Bevölkerung. »Der von den USA geführte Angriff im Jahre 1991 fügte der Umweltqualität und der Umweltschutzinfrastruktur schwere Schäden zu. Im weiteren Verlauf wurden diese Schäden nicht behoben, sondern infolge der gegen den Irak verhängten UN- Sanktionen sogar verschlimmert.«

Die Mission des Umweltprogramms der UNO (UNEP), das den Auftrag hatte, die Auswirkungen des Angriffs auf das irakische Ökosystem einzuschätzen und ein Programm zur Umweltentlastung vorzulegen, kam unter anderem zu folgenden Schlüssen: »Die Luftangriffe mit ihren Verwüstungen durch Bomben und Granaten sowie die Raketenangriffe haben die Infrastruktur weitgehend zerstört. Vollständig zerstört wurden Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Ölraffinerien und Öllager sowie sechs Ölquellen. Eine unmittelbare Folge davon war, daß die Bewässerungspumpen nicht mehr betrieben werden konnten.« Darüber hinaus gelangten giftige Chemikalien durch die Bombardierung von Industrieanlagen in den Boden und in fließende Gewässer. Aufgrund der Zerstörung von Düngemittel- und anderen Fabriken fehlen dem Zweistromland bis heute wichtige landwirtschaftliche Produktionsmittel. Die Fabriken konnten nicht wieder funktionstüchtig gemacht werden, da unter den Bedingungen des Embargos keine Ersatzteile beschafft werden können. Auch die ehemalige Leiterin des Welternährungsprogramms im Irak, Jutta Burghardt, unterstreicht dies.

»Eines der größten Probleme ist die Versorgung mit Trinkwasser. Der prekäre Zustand aller Wasserversorgungseinrichtungen wurde von mehreren Missionen der UNO hervorgehoben, die das Land nach dem Krieg besuchten«, so Kammas.

Die Vereinten Nationen nannten die Wiederherstellung der Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsanlagen als vorrangige Aufgabe der humanitären Unterstützung. Und doch kommt nur wenig Hilfe ins Land. »Es ist dem Erfindungsreichtum und Engagement irakischer Ingenieure zu verdanken, daß es möglich war, die Wasseraufbereitungsanlagen zu etwa 50 bis 60 Prozent ihrer Vorkriegskapazität wieder nutzbar zu machen«, schreibt Kammas. Doch Improvisation ist keine Perspektive. Der Zustand dieses zentralen Versorgungsbereiches ist weiterhin gefährdet und verschlechtert sich zusehends aufgrund der sanktionsbedingten Schwierigkeiten, dringend benötigte Ersatzteile und Materialien importieren zu können.

Es ist ein Verdienst der Herausgeber, mit Mona Kammas und Professor Ali Mansoor, den langjährigen Leiter der Deutschen Abteilung der Fremdsprachenfakultät an der Universität in Bagdad, auch irakische Wissenschaftler zu Wort kommen und von ihren Nöten berichten zu lassen. Man muß dabei nicht jeden ihrer Sätze unterschreiben, wie auch bei den anderen Beiträgen nicht. Und doch gilt für die wohl weiter andauernde Kontroverse, was Rüdiger Göbel am Ende schreibt: »Den massenhaften Sanktionstod als Massenmord zu benennen, muß nicht heißen, sich mit der Führung in Bagdad einverstanden zu erklären.«

(Aus unserer Wochenend-Beilage, politisches Buch)

© junge Welt