Mit leeren Händen

Es reicht immer nur bis zum zwanzigsten Tag: Vom Leben und Überleben in Irak - unter den Bedingungen der UN-Sanktionen

Jürgen Todenhöfer, Frankfurter Rundschau, 16.04.2002

Bagdad, April 2002. Fünf junge Iraker, mein achtzehnjähriger Sohn und ich sitzen in einem kleinen Antiquitätenladen vor einem winzigen Fernseher. Wir warten auf den Beginn des Champions-League-Spiels Bayern München gegen Real Madrid. Statt Effenberg und Zidane erscheint jedoch Iraks Präsident Saddam Hussein auf dem Bildschirm. Er hat wegen des Nahostkonflikts eine Kabinettssitzung einberufen, über die nun auf allen Kanälen lang und breit berichtet werden muss.

Die Irakis sind den Personenkult des Diktators gewohnt. Tausende von meterhohen Standbildern und Denkmälern zeigen ihn im ganzen Land, in allen denkbaren Posen und Kostümen. Niemand würde es wagen, darüber zu spotten: Saddam hat sein Volk fest im Griff. Die Opposition ist liquidiert oder vertrieben. Mit den autonomen Kurden im Norden des Landes hat er sich - gezwungenermaßen - arrangiert. Auch der schiitischen Führung im Süden, die er früher verfolgen ließ, kommt er seit einiger Zeit entgegen. Zwar duldet er noch immer keine fundamentalistischen Strömungen, aber überall im Land lässt er neue Moscheen bauen. Der Mann, der einst von den USA als Gegengewicht gegen Khomeini aufgebaut wurde, versucht die Reihen hinter sich zu schließen.

Als ich versuche, den jungen Irakis zu erklären, warum die USA Saddam Hussein neben bin Laden zum Staatsfeind Nummer 1 erklärt haben, als ich sie auf seinen Giftgaseinsatz vor vierzehn Jahren gegen die Kurden hinweise, ihnen die Invasion Kuwaits vorhalte, die Sorge der west-lichen Welt wegen der Produktion chemischer und biologischer Waffen erkläre und sie frage, was sie von Saddams menschenverachtenden Äußerungen nach dem 11. September halten, wird es still in dem kleinen Laden.

Dann antwortet Ahmed, ein schmächtiger zwanzigjähriger Architekturstudent mit einer etwas zu großen Nickelbrille: Er könne viele meiner Fragen nicht beantworten, er wolle jedoch wissen, warum wir in Europa immer nur kleine Länder wie Irak kritisierten, aber nie den Mut hätten, den USA ihre doppelte Moral vorzuhalten. Wenn es den USA wirklich um Menschenrechte gehe, warum lade dann Präsident Bush den saudi-arabischen Regenten Abdullah, der sein Land im finstersten Talibanstil regiere, auf seine Farm in Texas ein. Wenn es den USA wirklich um regionale Rüstungskontrolle gehe, warum rüsteten sie dann unter Verletzung aller UN-Resolutionen Iraks Nachbarn Ägypten, Saudi-Arabien und Israel auf. Warum werde Irak wegen der siebenmonatigen Besetzung Kuwaits seit elf Jahren gnadenlos bestraft, während Großbritannien wegen seiner vierjährigen Besetzung Iraks von 1917 bis 1921 nicht einen Tag lang mit Sanktionen belegt worden sei. Und warum konzentrierten sich die USA in Nahost seit Jahren auf Irak, während sie den israelisch-palästinensischen Konflikt viel zu lange in einer Weise eskalieren ließen, die die ganze Region destabilisiere. Wir diskutieren die halbe Nacht, ergebnislos.

Die Ampullen kommen zu spät

Am nächsten Morgen besuchen wir mit Unicef, die unser Programm organisiert hat, das staatliche Kinderkrankenhaus Ibn el Baladi in Saddam-City, dem ärmsten Stadtteil Bagdads. Es fehlt an Medikamenten. Manchmal gibt das UN-Sanktionskomitee statt der beantragten Spritzen nur die Nadeln frei. Die Ampullen kommen dann sechs Monate später. Die Kindersterblichkeit ist seit Verhängung der Sanktionen 1991 laut Unicef-Jahresbericht 2001 um 160 Prozent gestiegen. Die Kombination, die Kleinkindern das Leben kostet, heißt Unterernährung, verseuchtes Wasser und unzureichende medizinische Versorgung - unbestreitbare Folgen der UN-Sanktionen.

In einem kleinen Zimmer kauern elf junge Frauen auf Feldbetten, ihre kranken Babys in den Armen. Die Ärztin sagt uns leise, dass zwei der Frauen ihr Kind verlieren werden, darunter Indira, eine hübsche Irakerin, deren vierzehn Monate altes Kind statt neun nur knapp vier Kilo wiegt. "Ich habe keine Kraft mehr", sagt die Ärztin resigniert, "die Kinder sterben mir unter den Händen weg."

Am nächsten Tag sind wir in einer Grundschule in Saddam-City. Seit dem Beginn der Sanktionen zerfällt die Schule, wie das ganze Land. Es gibt keine Toiletten, keine Heizung, kein elektrisches Licht, keine Fensterscheiben. Im Winter wird bei Minusgraden unterrichtet. Trotzdem sind die Kinder mit Begeisterung dabei. Wie in Deutschland würden die meisten Jungs gerne Fußballspieler und die meisten Mädchen Ärztinnen werden. Die Sanktionen werden dafür sorgen, dass kaum eines der Kinder seine Ziele erreichen wird. In den oberen Klassen werden viele dem Unterricht fernbleiben, um ihre Familien mit zu ernähren. Unicef hat für je etwa 15 000 Dollar einige der Grundschulen Bagdads renoviert. Als wir eine dieser Schulen besuchen, werden wir von den Kindern mit Jubelstürmen empfangen. Die Hilfsorganisationen Unicef, UNDP, Care und Enfants du Monde sind für die kleinen Irakis der einzige Lichtblick in ihrer trostlosen Welt.

Anschließend besichtigen wir Dar al Rahma, ein Heim für Straßenkinder in Bagdad, ein Pilotprojekt von Unicef und der französischen Hilfsorganisation Enfants du Monde. Die Zahl der herumstreunenden Kinder geht seit Verhängung der Sanktionen in die Zehntausende. Die Kinder drängen sich um Patric, den neunundzwanzigjährigen Franzosen, der aussieht wie Andrew Agassi und der das Heim für einen Hungerlohn betreut. Sie suchen Zärtlichkeit, die ihnen sonst niemand gibt. "Was der Westen mit den irakischen Kindern tut, ist beschämend", sagt Patric leise. "Und noch beschämender ist, dass niemand dagegen protestiert."

Die schlimmsten Jahre für die irakische Bevölkerung waren die Jahre 1991 bis 1996. Im ganzen Land herrschte kaum vorstellbare Hungersnot. Seit 1997 hat sich die Ernährungslage durch das "Öl-für-Nahrung-Programm" etwas verbessert. Es erlaubt Irak, wieder offiziell Öl zu verkaufen. Die Erlöse gehen an die UN, die damit Lebensmittel und andere nichtmilitärische Güter an Irak liefert, aber auch Reparationen an Kuwait bezahlt.

Magerste Rationen

Das Programm hat, wie mir Tun Myat, der zuständige UN-Koordinator, erläutert, die humanitäre Katastrophe in Irak stabilisiert, allerdings auf einem "unerträglich hohen Niveau". Jeder der 23 Millionen Irakis erhält monatlich einen Essenskorb, der seine Grundversorgung mit Nahrungsmitteln in quantitativer Hinsicht einigermaßen sicherstellt. Die Monatsration besteht vor allem aus neun Kilo Mehl, drei Kilo Reis, zwei Kilo Zucker, einem Pfund Linsen, einem halben Pfund Bohnen und eineinviertel Kilo Öl. Fleisch, Obst, Gemüse sind nicht dabei. Wir stehen vor einer Verteilungsstätte in der Nowab-al-Thubat-Straße. Schwarz gekleidete Frauen drängeln sich vor einem winzigen dunklen Krämerladen. Die vierzigjährige Zahra, die einen Dreifamilienhaushalt mit siebzehn Personen zu versorgen hat, transportiert gerade in Eimern und Plastiktaschen ihre Monatsration ab. Ihr Haushalt hat ein monatliches Einkommen von 50 000 Dinar, das sind 25 Dollar. Sie klagt, die Lebensmittel reichten nur bis zum zwanzigsten Tag. Manchmal müsse sie auch einen Teil davon wieder verkaufen, um Medikamente oder Kleidung zu erwerben. Außerdem sei der Korb qualitativ völlig unzureichend. Es fehlten Vitamine und Proteine. Ihre Kinder seien ständig krank.

So wie Zarah muss sich das gesamte irakische Volk einmal im Monat demütig zur Nahrungsmittelausgabe anstellen, die Chefärztin des Krankenhauses Ibn el Baladi genauso wie die Lehrer der Schulen von Saddam-City. Die Irakis, einst eines der stolzesten und dynamischsten Völker des Nahen Ostens, sind seit Verhängung der Sanktionen zu Almosenempfängern degradiert - verdammt in alle Ewigkeit. Ist es da erstaunlich, dass Saddam in einer Mischung aus Größenwahn und Verzweiflung in diesen Tagen wieder einmal den Erdölexport gestoppt hat?

Der irakische Mittelstand ist total verarmt. Sein durchschnittliches Monatseinkommen liegt zwischen fünf und zehn Dollar. Der staatliche Ingenieur Omar, der uns einen Tag begleitete, verdiente 1990, vor Verhängung der Sanktionen, noch einen Gegenwert von 200 Kilo Fleisch pro Monat. Jetzt kann er sich mit seinem Gehalt von acht Dollar fünf Kilo Fleisch kaufen. Die achtundvierzigjährige Rektorenwitwe Muntha, die wir in ihrem verfallenen Haus besuchen, muss elf minderjährige Kinder durchfüttern, mit einer eine Pension von vier Dollar. Das reicht für ganze 12 Kilo Tomaten. Also handelt sie auf der Straße mit Zigaretten und Süßigkeiten, die ihr weitere viereinhalb Dollar pro Monat einbringen. Da auch das noch zu wenig ist, geht sie freitags, wie viele Professoren, Ärzte und Ingenieure, zur Rasheed-Street und bietet ihren Hausrat an. Ihre Schlafzimmermöbel, ihren Heizofen, die meisten Teppiche hat sie längst verkauft.

Massenhaftes Kindersterben

Am meisten leiden die irakischen Kinder. Hans Graf Sponeck, von 2000 bis 2001 UN-Koordinator des Öl-für-Nahrung-Programms, schätzt die Zahl der Kleinkinder, die an den Folgen der Sanktionen sterben, auf durchschnittlich 5000 pro Monat. Weit über eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren ist an den Folgen der Sanktionen gestorben. Sponeck ist deshalb, ebenso wie sein Vorgänger, der Ire Dennis Halliday, aus Protest von seinem Amt als UN-Koordinator zurückgetreten. Für den Sohn des 1944 von Himmler wegen Befehlsverweigerung hingerichteten Generals von Sponeck sind die UN-Sanktionen, die nicht den Täter, sondern die Opfer bestrafen, "die größte organisierte Ungerechtigkeit unserer Zeit".

Die von den Vereinigten Staaten erzwungenen Sanktionen verletzen die Menschenrechte der irakischen Bevölkerung noch mehr als die rigiden Polizeistaatsmethoden des schrecklichen Diktators Saddam Hussein. Sie haben mehr Menschen getötet als alle chemischen Waffen, die der gnadenlose Despot jemals gegen Iran und gegen die Kurden eingesetzt hat. Aber auch politisch waren sie ein Desaster. Denn sie haben Saddams Position in der Bevölkerung nicht geschwächt, sondern sie, vor allem in den armen Bevölkerungsschichten, noch gestärkt.

Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die USA das Problem Saddam Hussein nun gerne durch einen Krieg lösen würden - auch wenn die offizielle Begründung lautet, es müsse verhindert werden, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen. Die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist in der Tat eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Politik. Saddam hat im irakisch-iranischen Krieg und gegen die Kurden chemische Waffen eingesetzt, deren Komponenten ihm allerdings von den USA, Großbritannien und Deutschland bewusst zur Verfügung gestellt worden waren. 1994 musste der Diktator zugeben, dass er noch immer über chemische Waffen verfügt. All dies ist unstreitig. Unstreitig ist jedoch auch, dass diese Bestände an chemischen Waffen ebenso wie die Trägerraketen nach 1994 von den Vereinten Nationen zerstört wurden, so dass der Chef des Waffeninspektionsteams Unscom, Rolf Ekeus und seine rechte Hand Scott Ritter, 1998 erklären konnten, "95 Prozent der Arbeit seien getan", das Land sei "wirksam entwaffnet". Die Sanktionen wurden trotzdem nicht aufgehoben.

Was nach 1998 geschah, als Irak nach der Bombardierung irakischer Städ-te den UN-Inspektoren die Wiedereinreise verbot, entzieht sich der Kenntnis der Öffentlichkeit. William Cohen, Bill Clintons Verteidigungsminister, erklärte jedoch noch am 10. Januar 2001 stolz: "Saddam Husseins Streitkräfte befinden sich in einem Zustand, in dem er keine Gefahr mehr für seine Nachbarn darstellen kann." Das alles soll sich geändert haben - in nur einem Jahr?

Noch schwächer ist die Beweislage in Sachen Terrorismus. Alle westlichen Geheimdienste verneinen die Frage nach Kontakten des Irak zu Al Qaeda. Warum sollte auch ausgerechnet der Säkularist Saddam Hussein, der seit zwanzig Jahren jede fundamentalistische Strömung im Keim erstickt, Fundamentalisten Massenvernichtungswaffen zur Verfügung stellen, die ihn selbst gefährden könnten? "Eher bekommt ein Maultier Junge", sagte mir ein UN-Diplomat, "als dass Saddam fundamentalistische Terroristen unterstützt."

Was also ist das Motiv für die Kriegspläne der Vereinigten Staaten gegen Irak? Die Beseitigung eines Despoten, der sein Land unterdrückt? Wohl kaum. Der Sturz von Diktatoren war bedauerlicherweise nie zentrales Ziel der amerikanischen Außenpolitik. Viel wahrscheinlicher ist, dass es den USA um die Begleichung einer alten Rechnung geht - und um den monopolistischen Zugriff auf die zweitgrößten Erdölfelder der Welt.

Ansonsten spricht alles gegen einen Krieg: die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens Iraks mit dramatischen Gefahren für die Türkei und unerwünschten Vorteilen für Iran, die Gefahr eines weiteren Anstiegs des Fundamentalismus und die hohe Zahl ziviler Opfer, wenn es, wie mir die Straßenkinder von Dar al Rahma sagten, "wieder Marschflugkörper auf Bagdad regnet". So haben sich nicht nur alle arabischen Länder einschließlich Kuwait gegen einen militärischen Angriff ausgesprochen, sondern auch die beiden wichtigsten Kurdenführer in Nordirak, Barzani und Talabani.

Einige führende Politiker der USA scheinen trotzdem zu glauben, man könne sich eine gerechte Welt zurechtbomben. Das wäre jedoch der Beginn eines High-Tech-Vandalismus, der nicht nur Irak, sondern auch die zentralen Werte unserer Zivilisation zerstören würde. Die USA sind ein wunderbares Land, dem die Welt und vor allem Deutschland auf vielen Gebieten viel verdankt. Aber einigen amerikanischen Politikern scheint das Machtmonopol, das ihnen mit dem Untergang der Sowjetunion zugefallen ist, schlecht zu bekommen. Es ist ja auch nicht einfach, mit Monopolen umzugehen. Der Gorilla im Zoo verhandelt, wenn er Hunger hat, auch nicht mit den kleineren Affen, ob sie ihm ihre Banane geben oder nicht. Er nimmt sie sich. Aber ist es auf Dauer wirklich klug, wenn die amerikanische Führung auftritt, als könne sie die Welt je nach Interessenlage in Gut und Böse einteilen? Die USA haben die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion gewonnen, weil sie nicht nur auf militärische Stärke setzten, sondern auch auf Gerechtigkeit. Wäre das nicht auch ein Modell für Irak?

Eine andere Politik

Eine gerechte und friedliche Lösung des Irak-Konflikts ist sehr wohl möglich. Sie müsste von der irakischen Führung die Wiederzulassung der Waffeninspektionen, eine konsequente Rüstungskontrolle, ein striktes Waffenembargo sowie eine Gewaltverzichtserklärung und Garantien für die Kurden und für Kuwait fordern. Saddam Hussein muss ohne Zweifel weiter zurückstecken. Im Gegenzug sollten die mörderischen Wirtschaftssanktionen gegen das irakische Volk und die völkerrechtswidrigen Flugverbotszonen so schnell wie möglich aufgehoben werden. Diese Lösung würde die gesamte Region stabilisieren. Wäre das nicht wenigstens einen Versuch wert? Müssten nicht gerade wir Europäer uns dafür einsetzen?

Am letzten Tag unserer Irakreise stehen wir in Babylon an jener Stelle, an der Alexander der Große im Juni des Jahres 323 v. Chr. starb. Im Sterben breitete Alexander seine Arme aus, zeigte seinen Generälen seine Hände und sagte: "Ich habe die ganze Welt beherrscht, aber ich verlasse sie mit leeren Händen." Alexander wusste, dass alles, was nicht gerecht geregelt war, keinen Bestand haben würde. Vielleicht sollte George W. Bush sich gelegentlich an Alexander erinnern.

Der Verfasser ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Hubert Burda Media. Von 1972 bis 1990 war er Mitglied des Bundestages sowie entwicklungs- und rüstungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

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