Die unbequemen Erkenntnisse eines UNO-Chefs in Bagdad

Heiko Flottau über Hans von Sponeck (Basler Zeitung vom 08. 01. 2000)

Der Leiter der humanitären UNO-Hilfe im Irak, Hans von Sponeck, hat den Zorn der US-Regierung auf sich gezogen. Denn Sponeck, mehr Entwicklungshelfer als Diplomat, sagt laut und deutlich, was er täglich erlebt: das Leiden der irakischen Bevölkerung unter dem Druck der 1990 verhängten UNO-Sanktionen und unter fortgesetzten US-Luftangriffen.

Vor dem zweistöckigen, eher schäbigen Gebäude am Stadtrand Bagdads, das einst das Canal-Hotel beherbergte, stehen fein säuberlich aufgereiht Allradfahrzeuge der Vereinten Nationen. Es sind hundert, vielleicht auch mehr. Nur die kleine Aufschrift auf den Nummernschildern verrät, wem sie einst dienten: der Unscom, jener Kommission der UNO, die im Irak nach Massenvernichtungswaffen suchte.

Kurz nach den viertägigen amerikanisch-britischen Luftangriffen auf den Irak im Dezember 1998 haben die Inspektoren das Land Hals über Kopf verlassen. Das oberste Stockwerk des Hotels, in dem die UNO-Leute arbeiteten, ist seither versiegelt. Niemand darf es betreten, und niemand will es betreten. Denn viele vermuten, die Inspektoren hätten dort gefährliche biologische und chemische Substanzen gelagert, welche sie bei ihren Kontrollgängen den Irakern abgenommen haben.

Besuch in Saddam City

Im ersten Stock des Hotels aber arbeitet noch immer jenes Team der Vereinten Nationen, welches die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten an die Not leidende irakische Bevölkerung überwacht. Es ist eine engagierte Mannschaft aus vielen Nationen. An ihrer Spitze steht ein Deutscher: Graf Hans von Sponeck. Er trägt heute einen dunklen Anzug - so als käme er geradewegs von einem diplomatischen Empfang. Tatsächlich hat er einer diplomatischen Pflicht nachkommen müssen.

Aber es war ein eher ungewöhnlicher Auftritt, den Hans von Sponeck hinter sich hat. Er hat den Vertreter Italiens in Bagdad nach Saddam City begleitet. Saddam City ist eines der übelsten Wohnviertel Bagdads - ein überwiegend von muslimischen Schiiten bewohnter Slum ohne regelmässige Müllabfuhr, ohne funktionierende Schulen, ohne angemessene hygienische Einrichtungen. Im Rahmen des UNO-Programms "Öl für Lebensmittel" haben von Sponecks Leute dort einige Schulen renovieren und neu ausstatten lassen. Er selber ist noch ganz mitgenommen von dem, was er dem italienischen Diplomaten sonst noch zeigen musste: Sie haben zahllose herumlungernde, arbeitslose Jugendliche gesehen. Und sie haben Schulen inspiziert, die nicht einmal Kreide haben, um die Schüler angemessen zu unterrichten. "Und das", bricht es aus Hans von Sponeck heraus, "ist die Jugend, die einst den neuen Irak führen soll?"

Der UNO-Mann kommt damit geradewegs zu seinem Hauptthema - zu dem, was er für das grösste Unglück der Sanktionen hält: die mangelnde Ausbildung der irakischen Jugend. Über zwei Milliarden Dollar hätten die Iraker vor den Sanktionen für Bildungszwecke bereitgestellt. Heute mache die Regierung gerade noch 200 Millionen locker. Und dieser Betrag müsse für eine um drei Millionen Menschen gewachsene Bevölkerung reichen. Von Sponeck hat ein Wort, das er allen Besuchern vorträgt: Deprofessionalisierung. So nennt er eine Entwicklung, durch die Menschen erlernte Fähigkeiten verlernen, weil sie diese nicht mehr anwenden können.

Familien, die früher ihren Lebensunterhalt selbst verdient hätten, seien durch den Zusammenbruch von Wirtschaft und Währung nicht mehr in der Lage, sich selber zu ernähren. Heute, nach neun Jahren Sanktionen, lebe die Mehrzahl der Iraker von Almosen, klagt von Sponeck. Ein wenig kritisiert er auch seine eigene Organisation. Die Beschränkung auf die Verteilung von Lebensmitteln habe bei den Irakern eine Art "Empfängermentalität" gefördert. In Zukunft müsse die UNO die Familien in die Lage versetzen können, sich wieder selber zu ernähren.

Eine Rückwärtsentwicklung von solchen Dimensionen macht einen Mann wie Hans von Sponeck besonders betroffen. Denn er arbeitet seit drei Jahrzehnten bei den Vereinten Nationen. Im Rahmen der UNDP, des UNO-Entwicklungsprogramms, hat er gelernt, dass Entwicklungshilfe den einzelnen Menschen befähigen muss, sein Schicksal selber zu gestalten. Im Irak sieht von Sponeck eine entgegengesetzte Entwicklung. Er sieht ein Volk, das auf den Status eines Drittweltlandes zurück "sanktioniert" wird.

Als von Sponeck im Herbst 1998 von UNO-Generalsekretär Kofi Annan ins Amt des "humanitären Koordinators" im Irak berufen wurde, hatte sein Vorgänger, der Ire Denis Halliday, gerade das Handtuch geworfen. Mit dem Verdikt, die Sanktionen schadeten dem Volk und nützten dem Regime, hatte sich Halliday verabschiedet. Die USA hatten gehofft, dass nach Hallidays Abtritt eine Art Lagerverwalter nach Bagdad kommen werde, der die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten statistisch penibel überwache. Doch mit Hans von Sponeck kam kein Lagerist, sondern ein engagierter Entwicklungshelfer, der zudem von der ketzerischen Überzeugung geprägt ist, dass militärische Aktionen kaum jemals Probleme gelöst haben. Eine der ersten Missetaten, die von Sponeck nach Ansicht der Amerikaner im Irak beging, war seine Reise nach Basra.

Lästiger Augenzeuge

Dort waren am 25. Januar 1999 Menschen durch eine fehlgeleitete Rakete der Amerikaner getötet und verletzt worden. Von Sponeck liess Fotos der Opfer machen und die Bilder an Amerikaner, Briten und andere Diplomaten verteilen. Fast jedesmal, wenn die Iraker Tote und Verwundete durch Luftangriffe meldeten, waren Sponeck oder seine Mitarbeiter zur Stelle. Jedes Mal fand er die irakischen Angaben bestätigt. Und jedes Mal liess er Fotos machen: Fotos der Toten, Fotos von abgesprengten Gliedmassen, zerstörten Beduinenzelten und Beerdigungen.

Es war besonders diese für Amerikaner und Briten in höchstem Masse peinliche Dokumentation der Luftangriffe und ihrer Schäden, welche den Zorn der Amerikaner auslöste. Dieser "Gentleman" überschreite sein Mandat, liess sich James Rubin, Pressesprecher des US-Aussenministeriums, im November in rüdem Ton vernehmen. Er müsse deshalb von Kofi Annan abberufen werden. Doch der hielt zu seinem Mann in Bagdad. Auch das im Irak vertretene diplomatische Corps unterstützt ihn. "Sponeck gebührt Hochachtung, Beleidigungen hat er nicht verdient", sagt ein westlicher Diplomat.

Manipulierte Statistiken

Von Sponeck will den Konflikt mit den USA nicht verschärfen. Er will den Irakern helfen, und er will Kofi Annan nicht erneut dem Druck der Amerikaner aussetzen. Doch manchmal kann auch der ruhig argumentierende Diplomat ein wenig die Fassung verlieren. Was ihn besonders empört, ist der amerikanische Vorwurf, er gehe dem irakischen Regime auf den Leim. "Ich bin gewiss nicht als nützlicher Idiot für die Iraker da. Man muss uns Professionalität zubilligen", sagt er. Man darf es ihm glauben, zumal ihm jede Form von Antiamerikanismus fremd ist. Schliesslich ist seine Frau Amerikanerin.

Umso mehr empören ihn Statistiken, welche die USA über das Internet verbreiten. Der Irak verzögere bewusst die Verteilung von Lebensmitteln, um die Leiden der Iraker im Propagandakrieg gegen die USA nutzen zu können, heisst es da. Von Sponeck hat den Mut, aller Welt zu sagen, dass die Iraker - inzwischen jedenfalls - gut mit der UNO kooperieren. Und er kann die amerikanischen Angaben leicht widerlegen. Er argumentiert nicht mit lauten Tönen, sondern mit Tatsachen. Von Sponeck, jetzt doch ganz der von den Amerikanern gewünschte Lagerverwalter, holt seine eigenen Statistiken hervor und beweist das Gegenteil: Alles sei verteilt bis auf jene Ware, die sich noch in der Qualitätskontrolle befinde oder welche die Kontrolle nicht passiert habe.

Saddams Zynismus - was tun?

Und was ist mit jenen Milliarden, die Saddam Hussein in seine Paläste steckt, statt sie für sein Volk zu investieren? In der Tat, sagt von Sponeck, dies sei schwer zu akzeptieren. Aber der Entwicklungshelfer von Sponeck zieht eine für ihn typische Konsequenz. Dann dürfe man, sagt er, die Sanktionen nicht verstärken, man müsse vielmehr dem leidenden Volk noch mehr helfen. Was macht ihm am meisten Schwierigkeiten bei seiner Arbeit? Von Sponeck braucht nicht lange zu überlegen: "Die Distanz in den Hauptstädten, die Schwierigkeit, die menschliche Realität im Irak nach aussen zu vermitteln."

Warum engagiert sich Hans von Sponeck schon drei Jahrzehnte für die Entrechteten dieser Welt? Die Antwort fällt ihm sichtlich schwer. Man spürt, dass alte Wunden aufzubrechen drohen. Eine tragische Kindheit tritt zu Tage. Sein Vater weilte im Zweiten Weltkrieg als Truppenführer in der Krimgegend, als seine Einheit hoffnungslos verloren war. Zweimal beantragte Vater von Sponeck bei Hitler den Rückzug, um seine Leute zu retten. Zweimal verweigerte Hitler die Rettung seiner Soldaten. Dann handelte von Sponeck auf eigene Faust, verhinderte so die Vernichtung der Truppe - und wurde dafür von Hitler zum Tode verurteilt. Ein Gnadengesuch der Mutter bewahrte ihn vor der Exekution - vorläufig. Vater von Sponeck kam nach Germersheim ins Gefängnis. Doch zwei Tage nach dem 20. Juli 1944 wurde von Sponeck, der keine Verbindung zum Widerstand hatte, erschossen. Auch die Mutter starb durch die Hand der Nazis. Sohn Hans von Sponeck, 1939 geboren, zog aus dem grausamen Geschehen des Krieges Konsequenzen für sein Leben. Er gehört zu den ersten Kriegsdienstverweigerern der Bundesrepublik. Und "irgendwo bestand in mir der Wunsch, in meinem Leben etwas zu tun, was solche Entwicklungen in Zukunft verhindert", sagt Hans von Sponeck. Zu den Vereinten Nationen kam er 1968, fünf Jahre bevor die Bundesrepublik Vollmitglied der Weltorganisation wurde. Seither arbeitet er für das Entwicklungsprogramm UNDP in New York und Genf, in den Entwicklungsländern Ghana, Pakistan, Botswana und Indien, ferner auch in der Türkei. Bagdad ist sein vorerst letzter Posten. Im Alter von 60 Jahren werden UNO-Beamte im Allgemeinen pensioniert.

Ständiger Adrenalinstoss

Bagdad ist für jene Helfer der Vereinten Nationen, die für das Programm "Öl für Lebensmittel" arbeiten, ein harter Posten. Weil die Iraker die Sanktionen und das humanitäre Programm nicht als Dauerzustand ansehen, haben die UNO-Leute, anders als normale Diplomaten, im allgemeinen Aufenthaltsbewilligungen für nur ein halbes Jahr - so lange, wie jede Phase des Hilfsprogramms währt. Häuslich niederlassen soll sich in Bagdad keiner von ihnen. Deshalb müssen sie in Hotels wohnen und dürfen keine Wohnungen mieten. Vor allem dürfen sie ihre Familien nicht mitbringen.

Die grössten Schwierigkeiten bei der Verlängerung seines Vertrages, sagt Sponeck lächelnd, habe er denn auch nicht mit den Amerikanern oder mit Kofi Annan gehabt, sondern mit seiner in Genf lebenden Frau. Ihr hatte er beim Antritt seines Postens im Herbst 1998 versprochen, nur ein Jahr im Irak zu bleiben. Doch allzu lange will auch er nicht mehr in Bagdad ausharren. "Ein Aufenthalt im Irak bedeutet einen ständigen Adrenalinstoss", sagt Hans von Sponeck. "Und man sollte sich nicht daran gewöhnen, dass dies ein normaler Zustand ist."

Embargo, Abrüstung, Brot für Öl

wh. Seit mehr als neun Jahren steht der Irak unter einem Handelsembargo. Der UNO-Sicherheitsrat verhängte die umfassenden Sanktionen am 6. August 1990 in der Resolution 661, wenige Tage nach der Besetzung des Ölscheichtums Kuwait durch die irakische Armee. Nach Iraks Niederlage im Golfkrieg gegen eine von den USA angeführte Streitmacht verabschiedete der Sicherheitsrat am 3. April 1991 die Resolution 687, die von Bagdad die Zerstörung aller atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen forderte. Die Aufhebung der Sanktionen wurde von der Erfüllung dieser Forderung abhängig gemacht.

Zur Überwachung der Zwangsabrüstung setzte der Sicherheitsrat die Unscom ein, die UNO-Sonderkommission für die Abrüstung des Irak. Nach viertägigen Luftangriffen durch die USA und Grossbritannien im Dezember 1998 kündigte Bagdad die Zusammenarbeit mit der Unscom auf. Seither versucht der Sicherheitsrat, eine neue Inspektionskommission einzusetzen.

Angesichts des Leidens der irakischen Zivilbevölkerung bewilligte der Sicherheitsrat 1996 das Programm "Öl für Lebensmittel": Es erlaubte dem Irak, aus dem Erlös einer bestimmten Menge exportierten Erdöls Lebensmittel und Medikamente zu kaufen. Im Dezember 1999 ist dieses Programm für ein weiteres Halbjahr bewilligt worden. Import und Verteilung der Güter kontrolliert die UNO. Das zuständige Team wird seit Herbst 1998 vom Deutschen Graf Hans von Sponeck geleitet.