Bernd Feuchtner

Die Schönheit von Bagdad

Lebenszeichen einer Stadt im Bannstrahl

Frankfurter Rundschau 17.05.2001

Da soll ich mich hineinsetzen? Der Taxifahrer lächelt mich an: "Baytol Hikma? Ja! Bitte sehr!" In diese Schrottkiste, diesen zerfleischten Passat? Die Windschutzscheibe mehrfach gesprungen, die Splitter der Rückscheibe durch einen dicken Bolzen zusammengehalten. Vom einst beigen Lack fast nichts übrig. Ich versinke in einem Sitz, der schon lange keinen Bezug mehr hat, die Tür schließe ich mit einem Griff in den Fensterrahmen, denn weder die Seitenscheibe ist da, noch der Türgriff, und von der Fensterkurbel ragt nur noch eine verbogene Rippe heraus. Eine Verkleidung gibt es auch nicht mehr. Doch alle diese Taxis mit den orangefarbenen Kotflügeln sehen so aus: Wie Autos eben aussehen, für die es seit zehn Jahren keine Ersatzteile gegeben hat, und die weiterhin fahren müssen, weil es auch neue Autos nicht gibt.

Nun also zum Baytol Hikma, zum "Haus der Weisheit" neben dem Abbasiden-Palast. Das einzige blaue Haus in Bagdad, die frisch renovierte Fassade leuchtet aus dem Graubraun. Zwischen den drei zum Fluß vorspringenden Flügeln Gärtchen mit Springbrünnchen, davor eine sonnige Terrasse über dem Tigris - ein Idyll gelehrsamer Beschaulichkeit, wie der Gedanke einer Akademie sie erträumt. Die Gründung ihrer Vorgängerin vor 1200 Jahren zu feiern, drängeln sich hier Wissenschaftler. Im Saal filmt das Fernsehen grüne Generäle und bunte Kirchenoberhäupter, unter denen in Kardinalsrot der ehrwürdige Raphael I. Bidawi herausleuchtet, "Patriarch von Babylon, der Chaldäer und der Welt", einer der sechs letzten Überlebenden des II. Vatikanischen Konzils.

Saddam-Portraits

Das Podium ist blau ausgemalt, das goldene Relief Saddam Husseins prangt über der Weltkarte, auf der die arabische Welt die grüne Mitte einnimmt. Eine Tafel teilt uns mit, dass die Tagung unter der Schirmherrschaft seiner Exzellenz des Präsidenten stattfinde. Als dessen Vertreter in Gestalt von Tarek Aziz eintritt, erhebt man sich, die Hymne wird gesungen, einleitende Worte preisen den Irak als Quelle der Weisheit und Innovation, danach rezitiert ein Priester das Fateha-Gebet, und man gedenkt der palästinensischen Märtyrer. Am Abend werden wir uns so im Fernsehen betrachten, und mein Nachbar wird sagen, diese religiösen Formeln habe es früher nicht gegeben, so wenig wie den Koranvers auf der Staatsflagge dort über Saddams Kopf.

Auch die Hymne des von Saddam neugegründeten "Hauses der Weisheit" war aus den Lautsprechern erklungen. In schwerem Moll marschiert sie daher und erinnert mich eher an die "Moorsoldaten" als an alles, was ich bisher als arabische Musik kennengelernt habe. Während der zwölfstündigen Fahrt mit dem Taxi durch die Wüste - der Internationale Saddam-Flughafen von Bagdad ist durch das Embargo gesperrt - hatte ich genügend Gelegenheit, meine Kenntnisse aufzufrischen: Um sich wach zu halten, spielte der Fahrer traditionelle irakische Musik in größter Lautstärke - sie ist hier noch nicht verpopt, sondern in ihrer alten Form lebendig.

Die Wüstentour selbst bietet kein Erlebnis außer dem der Dauer. Der jordanische Teil der Strecke führt zweispurig durch eine Ebene aus Lavaschotter, der irakische als sechsspurige Autobahn durch eine mäßig gewellte Ödnis. Auf der Gegenfahrbahn eine recht dichte Folge von Lastwagen, die meisten orangefarbene Mercedes mit dem klassischen, runden Fahrerhaus. Die Grenze kommt mir schon aus der Entfernung seltsam bekannt vor: Obwohl die Abenddämmerung noch kaum eingesetzt hat, wird der Platz von hohen Leuchtmasten erhellt, und die Abfertigungsanlagen erinnern an das, was man von der Fahrt nach Berlin gewohnt war. Doch hier werden wir in einen geräumigen, mit grünen Teppichen ausgelegten Salon geführt, in dem schon einige arabische Herren sitzen. Ein junger Mann mit dem strahlendsten Lächeln der Welt erscheint, schüttelt die Hand, reicht Tee und nimmt den Pass an sich. Den Service bot die DDR nicht.

Eineinhalb Stunden später, während denen wir dem jungen Mann zu Fuß oder im Wagen kreuz und quer durch die Stationen eines Verwirrspiels gefolgt waren, halte ich den Pass wieder in der Hand. Stempelgebühren waren fällig, Geld musste getauscht werden, und auch der junge Mann erwartete ein kleines Geschenk - nichts als eine riesige Bakschisch-Maschine ist diese Grenze. Um Mitternacht sind wir endlich am Tigris. Ich steige im Hotel Palestine ab, dem früheren Méridien am Abu-Nuwas-Ufer, das wie all die anderen Touristenhotels seit dem Golfkrieg unter staatlicher Verwaltung steht. Repariert werden kann nichts, da keine Ersatzteile ins Land kommen. Durch den Spülkasten rauscht der halbe Tigris, Tag wie Nacht.

Am nächsten Tag geht die Taxifahrt vorbei an prachtvollen Moscheen, alten wie neu gebauten. Einsam und verlassen der riesige Hauptbahnhof, in dem kaum noch Züge ankommen. An einer vierspurigen Straße, die durch das alte Bagdad so gewaltsam geschlagen scheint wie die Berliner Straße durch Frankfurt, werden sonntags Tiere verkauft - von Hühnern und Enten über Ziegen und Esel bis zu Hunden und Vögeln. An der Seite ab und zu ein Betonzaun, hinter dem sich die Reste von Trümmergrundstücken aus den Bombardements verbergen, sonst wirkt die Stadt intakt. An vielen Häusern ein Saddam-Hussein-Bild, an jeder größeren Kreuzung eine Statue des Führers. An einer Ampel steht ein Bettelmädchen mitten im Verkehr. In der Hand eine Scherbe, ist sie in ein Spiel versunken und träumt. Wenn die Autos halten, bekommt sie kleine Scheine zugesteckt. Als unsere Blicke sich treffen, lächelt sie; nach Geld fragt sie mich nicht.

Hupend steuert der Fahrer zwischen den zahllosen anderen verbeulten Blechkisten hindurch. Am Rückspiegel baumelt eine Ansichtskarte vom Felsendom mit der Inschrift "Al-Quds". Ob rechts oder links überholt wird, ist völlig gleichgültig. Warum alle hupen, ist nicht recht zu verstehen, da sich sowieso keiner darum kümmert - jeder Fahrer zieht in friedfertigem Anarchismus seine chaotische Bahn. Keiner wird je böse, und Hektik kommt auch im dichtesten Gedränge nie auf. Bevor der Fahrer sich eine Zigarette anzündet, bietet er lächelnd mir eine an - eine Geste, die mir noch öfter begegnen wird.

Wovon er allerdings am meisten inhaliert, sind die Benzindämpfe und Abgase seines Wagens, die aus den Lüftungsschlitzen dringen. Die Bagdader Luft ist braun und undurchdringlich, vom Industrieausstoß nicht weniger als vom Verkehr. Emissionsfilteranlagen hat das Embargo bisher auch nicht durchgelassen. Oder die Irakis haben keine bestellt. Wer weiß das schon. Die "Oil for Food"-Verwaltung der UNO gibt andere Informationen als die irakische Regierung, deren gesamter Im- und Export unter Kuratel gestellt ist; 12 Milliarden Dollar aus Ölverkäufen sind bei der BNP-Bank eingefroren, ebenso 2000 Kaufverträge im Wert von vier Milliarden Dollar. Als ich frage, was ich zu zahlen habe, lächelt der Fahrer wieder: "Soviel Sie wollen." Ich gebe ihm 1500 Dinar, das wären dann etwa zwei Mark. Sechs Scheine: Man ist fortwährend am Blättern, weil der 250-Dinar-Schein die größte und mittlerweile auch gebräuchlichste Note ist - mit den dicken, von einem gelben Gummiband zusammengehaltenen Bündeln von Saddam-Portraits in den Taschen fühlt man sich wie ein Millionär. Früher war der irakische Dinar drei Dollar wert.

Kultur, Eleganz

Heute verdient ein Professor zehn Dollar im Monat, höchstbezahlte Spezialisten kommen auf 150 Dollar. Lebensmittel bekommt die Bevölkerung auf Karten, von Hunger ist nichts zu sehen. Aber man hört von dem Elend der Familien, die den Vater im Krieg verloren haben, während die Frau nicht arbeiten kann oder darf. Die Menschen kleiden sich gern gut, die globale Uniform der Freizeitkleidung kommt nicht vor. Die jungen Männer tragen, wenn sie mit der Wasserpfeife im Kaffeehaus sitzen oder händchenhaltend spazieren gehen, gebügelte Hemden mit langen Ärmeln und Stoffhosen. Lederschuhe sind obligatorisch. Frauen - in der Öffentlichkeit etwas weniger präsent - bemühen sich, soweit die Mittel es zulassen oder sie nicht unter orientalischen Gewändern verschwinden, um Eleganz; ein helles Kopftuch kommt vor, ist aber nicht nötig. Niemand hängt nervös am Handy. Niemand hetzt einem Business hinterher, weil es keines gibt. Niemand will mir bei meinen Streifzügen durch die Stadt etwas aufdrängen.

Die irakische Gastfreundschaft ist überwältigend. Hier teilt man die Menschen nicht ein, keiner kommt auf die Idee, in mir den feindlichen Westler zu sehen. Die Leute freuen sich, selbst wenn sie glauben, ich sei Amerikaner. An zentralen Punkten und vor öffentlichen Gebäuden stehen Militärposten, die gelangweilt mit ihren Knarren spielen. Doch nie stellt sich das Gefühl der Bedrückung und Belauschung ein wie in der Sowjetunion oder der DDR.

Die untergegangene UdSSR ist aber dennoch präsent, nämlich im Baustil des Regimes der sozialistischen Baath-Partei. Riesige, plumpe Betonkisten werden in die Stadt geklotzt, kaschiert durch Orientalismen, doch weit entfernt von der Zartheit Scheherazades. Das alte Bagdad, das eigentlich ebenso zum Weltkulturerbe zählen müsste wie Potsdam, verschwindet. Die schönen, geheimnisvollen Altstadtgassen mit ihren holzvergitterten Balkonen verrotten. Für ihre Pflege ist kein Geld da, die Häuser sacken allmählich in sich zusammen. Dass dieser Prozeß nicht erst mit den Bombardements begann, sieht man in der Raschidstraße, der früheren Prachtstraße der Altstadt mit ihren von korinthischen Säulen gestützten Arkaden. Immer mehr Lücken sind entstanden und mit gesichtslosen Neubauten gefüllt worden, die verbliebenen Häuser verfallen von oben her. "Bagdad wurde gegründet von al-Mansur und verbessert von Saddam Hussein" steht auf einem Plakat im Bagdadi Museum. Hier wird in Wachsfiguren-Szenen das traditionelle Leben dargestellt: Familienleben, Körpertraining, Kaffeehaus, Basar, Feste - was ist davon unter Saddam noch existent?

Inzwischen wird immerhin ein gewisser Wohlstand sichtbar. Es gibt Leute, die Geld haben, sei es altes oder neues Geld. Gerade hat ein Geschäft eröffnet, das Schweizer Markenuhren verkauft und darauf weltweite Garantie gibt. Man findet eigentlich alles in Bagdad, wenn man ein wenig sucht. Auch eine Apotheke, die eine reichhaltige Auswahl an Medikamenten führt, die sonst im Land die größte Mangelware sind. Die Bombardements, die ja all die Jahre hindurch beinahe täglich fortgeführt wurden, fordern zivile Opfer, und auch wegen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse sterben die Menschen auf dem Land wie die Fliegen. Das Embargo hat zwar Lücken bekommen, es wird viel über Türkei, Jordanien, Syrien, Iran hereingeschmuggelt, doch für die Mehrzahl der Menschen sind alle diese Artikel unerschwinglich, ist Medizin unerreichbar.

Der Irak war vor dem Krieg nicht nur ein reiches und modernes Land, er hatte auch eine sehr kultivierte Bevölkerungsschicht. Geht man die Abu-Niwas-Straße am Tigris entlang, lockt Licht in Galerien. Die Bilder und Skulpturen halten sich von Folklore fern, befinden sich auf unterschiedlichen Markierungen der Skala zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Manche spielen mit der Kalligraphie des Korans, manche knüpfen an westliche Künstler wie Giacometti an.

Ein Lithograph druckt Variationen über das menschliche Gesicht - wie Bausteine setzt er unvollständige Gesichter zu Mustern zusammen: in Rahmen, ohne Rahmen, in Schwarz, Grün, Gelb, neben- und übereinander. Dass er sich an der Individualität abarbeitet, ist hier so wenig zu übersehen wie bei den Kleinplastiken von hermetischen Männergruppen, den Kopf hinter Zeitungen oder spitzen Kapuzen. Ein tief-roter Frauenkopf erinnert mich an esoterische Bilder; der Galerist erzählt mir, dass die Malerin verschüttet war und damit ihr Trauma zu bewältigen versucht. Und er gibt mir eine Einladung zu einer Vernissage in der Dijla-Galerie in ein paar Tagen.

Dort sehe ich Bilder von Khudayer al-Shakarchi. Getränke und Süßigkeiten werden gereicht. Die Galeristin, eine Dame im eleganten Kostüm, weist mich darauf hin, was ich in den Bildern finden kann: das alte Bagdad. Meist sind es junge Frauen, die in gut abgestimmten, freundlichen Farben unter leicht kubistischer Verfremdung häuslichen Tätigkeiten nachgehen, Handarbeit oder Musik betreiben, sich mit Tieren und Büchern beschäftigen. Nostalgie, doch mit Geschmack und ohne Wehleidigkeit. Auf der Rückfahrt durch die Syrische Wüste werde ich im arabischen Programm von Radio Monte-Carlo einen Bericht über diese Vernissage hören. Mein sympathischer Fahrer klagt: In der Schule hatte er Englisch gelernt, aber als er aus dem Krieg kam, konnte er es zehn Jahre nicht anwenden. Jetzt muss er die Familie ernähren, und deshalb fährt er alle drei Tage nach Amman, bleibt dort drei Tage, fährt wieder zurück, verdammt in alle Ewigkeit. Seine Kollegen in Amman sind schon abgebrüht: Prompt versuchen sie mich bei der Fahrt ins Hotel übers Ohr zu hauen.

Aber noch bin ich in Bagdad. Auf der Straße treffe ich den kleinen Schuhputzer, der dort sein Geschäft betreibt. Er erkennt mich wieder und freut sich, als ich stehen bleibe; kein Schuhputzer wirbt hier um Kunden, jeder hat seine Würde. Während des Putzens erzählt er mir von sich. Er kommt vom Land, seine Eltern sind krank. "Wegen dieses Geschäfts" konnte er nicht in die Schule gehen, Lesen und Schreiben hat er nicht gelernt. Seine Familie ist christlich, er heißt Joseph. "Bist du mein Freund?", fragt mich Joseph. Na klar, und er ist meiner. Als ich zahlen will, sagt er lächelnd, als sein Freund zahle ich natürlich nichts. Als Geschenk nimmt er das Geld dann viel lieber an. Und er möchte mir etwas zeigen. Er führt mich zu einer Kirche in der Nähe der Raschid-Straße. Als wir in den Vorhof kommen, höre ich schon die Musik. Es klingt wie ein Oratorium, nur auf Arabisch. Es ist auch eines, hier wird eine Passionsmusik geprobt. Der Dirigent hat ein kleines Symphonieorchester vor sich und einen gemischten Chor. Die Komposition stammt von ihm selbst, sie klingt manchmal ein wenig nach Fairuz, manchmal nach Händel, ist aber wie aus einem Guss. Er hat schon mehrere Kantaten geschrieben; die Kassetten werden bei den Konzerten, die ihn durchs Land führen, verkauft. Die Kirche ist neugotisch und innen türkis angestrichen, es mangelt nicht an Statuen, Blumen, Bildern von südländischem Kitsch.

Ein paar Musiker erzählen mir nach der Probe, wie hart das Musizieren ist. Geld bekommt niemand dafür, sie tun es alle aus Begeisterung für die Musik. Das ist nicht selbstverständlich, weil die arabische Musik ein völlig anderes Tonartensystem hat, und diese Musik an die westliche angepasst ist. In ein Ohr, das nur die vierteltönigen arabischen Klänge gewohnt ist, will die Dur/Moll-Harmonik nicht hinein. Deshalb finden Jugendliche, die ein westliches Instrument spielen wollen, selten Verständnis bei ihren Familien und in der Schule. Der Staat unterstützt sie sowieso nicht. Einige spielen auch im Irakischen Symphonieorchester, doch das ist kein Profiorchester mehr. Ihr Geld müssen die Mitglieder mit anderen Jobs verdienen, als Taxifahrer beispielsweise, aber da sind sie mit den Piloten von Iraq Air in bester Gesellschaft.

Ein junger Geiger nimmt mich mit zu seiner nächsten Probe beim "Amassi Sharq Ensemble". Er ist zwanzig und fährt wie der Teufel über die sechsspurige Stadtautobahn. Saddam grüßt im Hawaiihemd und mit Sonnenbrille. Wir parken in einem Viertel mit Einfamilienhäusern. Hier wohnt ein Möbelhändler, der Beethovens Relief an der Wand hängen hat. Seine beiden Söhne sind hochmusikalisch. Der Vierzehnjährige hat in Amman einen Klavierwettbewerb und damit ein Stipendium für das Studium in Paris gewonnen. Das ist die Chance, die den anderen jungen Musikern fehlt. Sein neunzehnjähriger Sohn spielt Klarinette und dirigiert das kleine Ensemble. Er schreibt auch die Noten aus. Denn Noten und Bücher fallen auch unter das Embargo. Er hört die Musik von der Kassette und schreibt sie nach Gehör ab.

Was in seinem Arrangement für das Ensemble dabei herauskommt, sind jetzt zum Beispiel die "Vier Jahreszeiten von Vivaldi", interpretiert mit Eleganz und sauberer Intonation. Danach spielen die neun jungen Instrumentalisten "Oum Saad" von dem irakischen Komponisten Bashir, das auf arabischen Melodien beruht, aber auch vom Jazz beeinflusst ist. Und schließlich Grieg, "In der Halle des Bergkönigs", mit wildem, phantastischem Humor, das Bild einer fernen, fremden Welt.

Dies hier ist nicht das einzige Kammerensemble in Bagdad. Einer meiner neuen Freunde hatte mir eine Kassette der "Bagdad Music Group" geschenkt, eines Ensembles älterer Musiker, die irakische Musik für westliche Instrumente adaptieren, darunter auch Stücke kurdischer Komponisten. Die Initiatorin des "Amassi Sharq Ensembles" ist eine Französin, die mit einem Iraki verheiratet ist. Ihre Tochter bekam die Geige der Großmutter, und in der Musikschule lernte sie einen Jungen kennen, der im Theater Klavier spielte. Der wiederum traf einen schüchternen Jungen, der Paganini spielte und dessen Begabung ebenso wenig gefördert wurde wie seine. Die Mutter sammelte die Talente nur so ein. Jeder erzählt mir seine Geschichte. Einer ist verheiratet, seine Frau erwartet ein Kind. Das Durchschnittsalter ist 21, und da liegt auch das Problem: Von einem jungen Mann über 16 wird erwartet, dass er Geld nach Hause bringt.

Zwei haben es noch ganz gut, sie studieren Chemie und arbeiten in einem Institut, wo sie 50 000 Dinar im Monat bekommen. Davon müssen sie sowohl das Material für Experimente als auch den Musikunterricht bezahlen, und ein Satz Saiten beispielsweise schlägt mit 25 000 Dinar zu Buche. Konzerte zu organisieren kostet auch mehr Geld, als je wieder hereinkommt. Die anderen müssen sich mit drei- bis viertausend Dinar im Monat begnügen. Die Musik kommt erst nach der Arbeit, am Abend und in der Nacht.

Aber sie sind verrückt nach dieser Musik. Sie haben das "westliche Ohr". Der Keyboarder hat als Autodidakt begonnen, ebenso der Cellist, und der Schlagzeuger kam von Jazz und Pop zur Klassik. Was ihnen fehlt, ist die Ausbildung bei einem Meister. Weil es wegen des Embargos im Irak weder Meister gibt noch Instrumente und Noten, müssten sie dazu ins Ausland gehen. Das ist im Prinzip nicht unmöglich, nur muss man 400 000 Dinar für den Pass bezahlen, und bis man dann wirklich draußen ist, locker eine Million.

Sie könnten Tourneen machen und ein internationales Publikum finden, das sich von ihnen verzaubern lässt. Doch kein Veranstalter oder Agent kann sie kennenlernen. Künstler, Wissenschaftler, Mediziner, Techniker - sie alle bekommen nicht die Gelegenheit, sich auf den internationalen Standard hinaufzuarbeiten. Die alten Professoren der Bagdader Universität, die selbst noch im Ausland studiert haben und mehrere Fremdsprachen sprechen, blicken mit Sorge auf den Nachwuchs. So wird einer ganzen Generation die Lebenschance genommen. Welch ein Aberwitz, ein ganzes Volk für zehn Jahre ins Straflager zu sperren!

Embargo

Ohne es zu ahnen, haben die Amerikaner den gigantischsten Versuch der Weltgeschichte gestartet: Was passiert, wenn man ein normal entwickeltes Land dauerhaft und vollständig vom Rest der Welt isoliert? Das Experiment hat die Dimension von Marivauxschen Versuchsanordnungen wie in "Der Streit" - alle Völkerkundler und Soziologen der Welt müssten sich darauf stürzen. Ungewollt wird demonstriert, dass der American Way of Life nicht derjenige ist, der glücklich macht. Ich fühle mich tatsächlich wie der Prinz, der sich zu Dornröschen durchgeschlagen hat, nur dass der Dornwald zur Wüste geworden ist. Die Schöne hat im Schlaf alle Verunstaltungen der westlichen Zivilisation abgestreift. Die Menschen sind bei sich, und das macht ihre Seelen schön. Es sind kluge, wache Leute. Sie haben Form, weil sie sich selbst schätzen. Sie haben Balance im Umgang mit anderen, weil sie selbst in Balance sind. Sie kommunizieren ohne den hektischen Ton des Westlers, weil ihnen die westliche Zielgerichtetheit fehlt.

"Die Leute verstehen mich nicht, wenn ich ihnen erzähle, wie es im Irak ist", sagt die italienische Archäologin. "Ich bin froh, mit Ihnen darüber sprechen zu können", meint auch der türkische Geschäftsmann auf der Internationalen Bagdader Messe. Dort ist alles vorhanden, was im Land fehlt. Die jungen Leute strömen herbei, um die technischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre zu bestaunen. Sie drücken sich durch die Hallen, um simple Wasserhähne und Komponenten der Hochtechnologie zu sehen, sie setzen sich auf Gabelstapler und in Luxusautos.

Am dichtesten ist das Gedränge bei kleinen Staaten wie Lettland oder Südkorea, während der deutsche Pavillon abgeschirmt ist für die hochkarätigen Geschäftsleute. Doch auch Siemens kann hier keine Abschlüsse machen, solange das Embargo gilt. Vor dem deutschen Pavillon ist eine automatische Bewässerungsanlage aufgebaut. Das Rosenbeet verlängert sich nach hinten in eine gemalte Wüste. Daneben sitzt Saddam Hussein im Schneidersitz und schmaucht seine Pfeife.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 17.05.2001 um 21:34:49 Uhr
Erscheinungsdatum 18.05.2001