"Der größte Wunsch von Schwester Soham"

Eine Visite im Bagdader Al-Mansour-Kinderkrankenhaus.

Neues Deutschland vom 5.4.2001

(Das Al Mansour-Kinderkrankenhaus in Bagdad ist Teil eines großen Klinikkomplexes. In das Lehrkrankenhaus mit seinen 300 Betten werden vor allem schwer zu behandelnde Fälle aus dem ganzen Irak eingeliefert.)

Der Kinderarzt Dr.Mahmud ist Leiter der Klinik. "Zu uns kommen Kinder aus dem gesamten Irak. Meist sind die Krankheiten im fortgeschrittenen Stadium, so dass sie woanders nicht mehr behandelt werden können." Das Al-Mansour-Krankenhaus sei mit vielem ausgestattet, was es in anderen Krankenhäusern nicht gäbe, erläutert der Kinderarzt. Früher seien hier die besten Ärzte und Chirurgen gewesen, um junges Personal auszubilden. Viele der Fachärzte arbeiteten heute in anderen Ländern oder in Privatkliniken, dort sei mehr zu verdienen.

"Wir haben Tumorerkrankungen jeder Art," erklärt Dr. Mahmud. "Die Kinder mit Leukämie, Schilddrüsen- oder Lymphdrüsenkrebs und mit schweren Missbildungen stammen alle aus dem Süden," wo es heftige Bombardierungen mit abgereicherter Uranmunition gegeben habe. "Wir haben viele Patienten mit ansteckenden Krankheiten, die wir eigentlich im Irak längst vergessen hatten: Typhus, Cholera, Masern, Windpocken, Mumps." Mangelnde Wasserqualität und Hygiene hätten die Krankheiten wieder hervorgebracht. "Wie in einem armen Land der dritten Welt."

Seine Anspannung wird spürbar, als Dr. Mahmud auf das Embargo zu sprechen kommt: "Es fehlt an allen Ecken und Enden," sagt er bitter. "Uns fehlen Medikamente für Anästhesie, Operationsbestecke, Medikamente zur Nachsorge, zur Diagnose, Ersatzteile für Spezialgeräte - einfach alles. Es gibt im Sanktionskomitee Vertreter aus den USA und aus Großbritannien, die einfach unsere Bestellungen auf Eis legen und nicht passieren lassen." Die Sanktionen, so Dr. Mahmud, hätten die ausgezeichnete medizinische Versorgung im Irak in ein Desaster gestürzt.

UN-eigene Quellen sprechen von 1677 Verträge im Wert von 3,36 Billionen $. die vom Sanktionskomitee zur Zeit gestoppt sind. 1124 dieser Verträge im Wert von 2,92 Billionen $ betrafen die Lieferung humanitärer Hilfsgüter. 553 Verträge im Wert von 442 Millionen $ betrafen Ersatzteile und Ausrüstungsgegenstände für die Ölindustrie. Selbst die UNICEF hat in einer Studie festgestellt, dass die Sterblichkeitsrate bei Kindern sehr hoch ist. Vor 1990 sei die Kindersterblichkeit im Irak gering gewesen, das Land sei von der UN sogar ausgezeichnet worden, erklärt Dr. Mahmud. Unter den aktuellen Bedingungen aber sei es für irakische Mediziner unmöglich, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Jede notwendige wissenschaftliche Kommunikation sei unterbunden.

Dr. Houssein Al-Atabi bestätigt die schwierigen Ausbildungsbedingungen im Al-Mansour-Krankenhaus, das ja eigentlich ein Lehrhospital sei. "Ich bin im letzten Jahr meiner Ausbildung," sagt der vielleicht Dreißigjährige. Tief sind die dunklen Ränder unter den freundlichen Augen. "Unsere Studienbedingungen sind schlecht. Zum Glück haben wir einige Freunde, die uns Bücher senden. Wir kopieren das hier, das ist weniger teuer. Ein pädiatrisches Standardwerk kostet im Ausland ca. 150 Dollar, die Kopie nur 40000 ID," sagt er. Das sind umgerechnet 52 Mark und mehr, als ein irakischer Arzt im Monat verdient. Dr. Al-Atabi sieht müde aus. Seit 4 Jahren arbeitet er im Al Mansour-Krankenhaus. Vor allem hat er gelernt, die Krise zu managen.

Die Station für die kleinen Tumorpatienten ist weitläufig, 4 Kinder pro Zimmer. Neben jedem Krankenbett steht ein weiteres Bett für die Mutter oder eine andere Betreuungsperson. "Im Gegensatz zu anderen Krankenhäusern sind wir gut ausgestattet," sagt der junge Arzt. "In anderen Provinzen oder an der Peripherie Bagdads sieht es schlimmer aus." Doch die Stimmung ist bedrückt, fast täglich stirbt einer der kleinen Patienten.

Abdallah aus Nasarija, 1 Jahr 8 Monate, Leukämie. Akin aus Nasarija, 12 Jahre, Lymphdrüsenkrebs. Ezrah aus Saddam-City, 4 Jahre, Leukämie. "Früher hatten wir nicht dieses Ausmass an Krebs bei Kleinkindern." Dr. Al-Atabi beugt sich über Hamad, der ihn halb versteckt unter der dünnen Decke hervor angrinst. "Kuckuck!" Ein Lachen huscht über sein Gesicht, doch genauso schnell ist es wieder verschwunden. "Dieser Kleine ist fünf Jahre alt, er hat Lymphdrüsenkrebs. Seine erste Behandlung war vor drei Jahren. Seitdem hat er vier Rückfälle gehabt." So ist es bei vielen Kindern, die meisten zwischen eineinhalb und zwölf Jahren. Wegen fehlener Medikamente kann die Chemotherapie nur teilweise durchgeführt werden. Die während der Nachsorge wichtige Ernährung ist schlecht, die Wohnbedingungen unzulänglich. Viele Familien leben in Saddam-City. "Das ist eines der ärmsten Viertel in Bagdad," erklärt Dr. Al-Atabi. "Dort leben rund 2 Mio Menschen. Es gibt eine große Zuwanderung, vor allem aus dem Süden. Die Familien dort gehören zu den ärmsten." Trotz Armut versuchen sie Medikamente, die im Irak "not available" (nicht erhältlich) sind, im Ausland zu kaufen.

Schwester Soham ist "die gute Seele unserer Station," sagt Dr. Al-Atabi und klopft der quirligen Frau auf die Schulter. "Seit 30 Jahren ist sie hier" - "und ich lebe noch immer!" Sie lacht. "Früher war es gut hier, aber heute ...". Schwester Soham schweigt, ihr Gesicht wird ernst. "Ich will nicht über die politischen Sachen reden - unsere Bedingungen sind wirklich schlecht." Dr. Al-Atabi zeigt auf einen durch Glas abgetrennten Raum. Auf einem Regal stehen Bilderbücher, Spiele, Kinderzeichnungen an den Wänden, in der Ecke eine Vase mit Kunstblumen. "Das ist ihr Raum," erklärt er. "Jedes Jahr schreibt sie einen besonderen Wunsch auf." An der Wand steht in großen bunten Buchstaben: "An alle Mächtigen der Welt: wir wollen Frieden." "In dem Zimmer erinnern wir uns an die Kinder, die gestorben sind," erklärt Schwester Soham. "Diese Bilder haben Kinder aus Amerika für uns gemalt." Voller Sympathie erzählt sie von der amerikanischen Delegation, die Mitte Februar zu Besuch kam: Journalisten, Künstler, Ärzte, Krankenschwestern. "So ein Besuch aus dem Ausland macht Mut," sagt Dr. Al-Atabi nachdenklich, nachdem sich Schwester Soham verabschiedet hat. "Psychologische Unterstützung ist wichtig für uns alle, besonders aber für die Kinder."

Das Interview führte Karin Leukefeld im März 2001 in Bagdad