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Wo Solidarität endet und das Abenteuer beginnt

Die deutsche Außenpolitik entdeckt ihren militärischen Arm

Ein Beitrag von Reinhard Mutz aus dem Jahresgutachten 2002 von fünf Friedensforschungsinstituten
Frankfurter Rundschau,
07.06.2002

Fahrlässig seien Gerhard Schröders Worte der "Enttabuisierung des Militärischen" gewesen, befindet Reinhard Mutz, stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg. Mutz blendet in seiner Analyse zurück - wie die Bundesrepublik zur Kriegspartei in Afghanistan wurde und warum die Gefahr wachse, dass militärische Interventionen zum "Alltagsgeschäft" der Bundeswehr werden. Die nächste Kraftprobe spiele sich um Irak ab. Wir dokumentieren einen von Mutz für die FR überarbeiteten Beitrag aus dem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Friedensgutachten 2002 von fünf Instituten. Es sind dies neben dem IFSH die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK, Frankfurt a.M.), das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF, Duisburg) sowie die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST, Heidelberg). Das Gutachten erscheint als Buch im LIT-Verlag, Münster.

In Deutschland stand am Anfang der Suche nach einer politisch adäquaten Antwort auf den 11. September das Kanzlerwort von der uneingeschränkten Solidarität. Es war die spontan über den Atlantik gesandte Botschaft der Verbundenheit mit der amerikanischen Bevölkerung im Angesicht der Schreckensbilder. Zu Abenteuern sei die Bundesrepublik gleichwohl nicht bereit, lautete wenig später der abschwächende Nachsatz. Er schien außen- wie innenpolitisch geboten, um allzu ausufernde Mutmaßungen über die Rolle Berlins in einer internationalen Allianz gegen den Terrorismus vorsorglich wieder einzufangen.

Beide Positionsbestimmungen sind auslegungsfähig. Wo die Solidarität endet und wann das Abenteuer beginnt, versteht sich nicht von selbst. Die Grenze hätte schärfer markiert werden können. Für einen kurzen Augenblick bestand die Chance der Wahl zwischen unterschiedlichen Richtungsentscheidungen. Die weichenstellende Festlegung traf der Bundestag schon am 19. September 2001, als die Koalitionsfraktionen dem Drängen von CDU und FDP folgten, die Solidaritätsbekundung der Bundesregierung als ein ausdrücklich auch militärisch gemeintes Beistandsangebot zu qualifizieren. Über die Einzelheiten sollte befunden werden, sobald die amerikanischen Unterstützungswünsche konkretisiert seien. Damit war ausgedrückt, wem aus deutscher Sicht der Vortritt bei der Strategie- und Mittelwahl zukomme. Die in der Parlamentsentschließung gleichfalls hervorgehobene Präferenz für ein international abgestimmtes und besonnenes Vorgehen klang dagegen eher nach einer Bitte als nach einer Bedingung. Zwei Monate später, am 16. November, beschloss der Bundestag mit 336 gegen 326 Stimmen die Teilnahme der Bundeswehr an den amerikanisch geführten Militäroperationen unter dem Sammelnamen Enduring Freedom.

In der Beschlussvorlage der Bundesregierung findet sich eine der seltenen Umschreibungen des Auftrags der Operationen - ob aus amerikanischer oder deutscher Feder stammend, steht dahin. Danach verfolgen sie das Ziel, "Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten". Von der letzten Aufgabe abgesehen, die einer Ausdehnung möglicher Kampfmaßnahmen Tür und Tor öffnet, ist die Definition relativ präzise, vorausgesetzt, es herrscht Einvernehmen darüber, was ein Terrorist ist. Um die Kritiker in beiden Regierungsfraktionen einzubinden und eine eigene Koalitionsmehrheit sicherzustellen, hatte der Bundeskanzler die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verknüpft; andernfalls wäre die parlamentarische Zustimmung sehr viel größer ausgefallen.

Was genau war den Abgeordneten bekannt, als sie den weit reichenden Beschluss fassten? Sie hatten ein klares Bild von Art und Zusammensetzung der Kräfte, die den Beitrag der Bundeswehr bilden. Ebenso kannten sie die zahlenmäßige Stärke der einzelnen Teilkontingente. Aber nichts war ihnen mitgeteilt worden über Ort und Zeit denkbarer Einsätze, nichts über die Einsatzziele, nichts über den oder die zu bekämpfenden Gegner. Darüber dürfe nicht öffentlich spekuliert werden, bekamen sie zu hören. Nichts also wurde verlautbart, was ein Urteil über die substanziell politische Frage der Tauglichkeit militärischer Maßnahmen innerhalb eines strategischen Gesamtkonzepts zum Kampf gegen den Terrorismus erst ermöglicht. Worüber aber sonst, wenn nicht über das Zweck-Mittel-Verhältnis, soll der Bundestag befinden, ehe er Auslandseinsätze der Bundeswehr gutheißt? Die Sicherheit der Soldaten erfordere die Geheimhaltung, so lautete die Standardbegründung. Das ist ein Scheinargument. Die Verlegung von Großgerät z.B. lässt sich höchstens solange verbergen, bis es am Bestimmungsort eintrifft. Und vor einer konkreten Kommandoaktion Schauplatz und Zeitpunkt zu nennen, hat nie jemand verlangt.

Kriegsschauplatz Zentralasien

Vom Einsatz der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg erfuhr die deutsche Öffentlichkeit durch eine Informationspanne. Während der Bodenoffensive "Anaconda" gegen neu formierte Einheiten der schon geschlagen geglaubten Taliban in der ostafghanischen Provinz Paktia Anfang März 2002 wurde aus amerikanischer Quelle berichtet, dass in den eigenen Reihen auch Soldaten verbündeter Streitkräfte kämpften, darunter deutsche. Die USA setzen einige tausend Mann Bodentruppen ein, um die Reste von Taliban und Al Qaeda in ihren ehemaligen Hochburgen im Süden und Osten des Landes aufzureiben. Im Vergleich dazu wirkt das deutsche KSK-Kontingent von rund 100 Soldaten wie ein nur symbolisches Aufgebot. Aber es macht die Bundesrepublik zur Kriegspartei in Afghanistan und damit die Frage unausweichlich, um welche Art Krieg es sich handelt.

Falls der UN-Sicherheitsrat mit seinen unklaren Voten vom 12. und 28. September 2001 die Anwendung von Waffengewalt billigen wollte, entscheidet über Ziel, Ausmaß und Dauer des Krieges seither der Anwender allein. Schon dieser Umstand muss zu denken geben. Die Bedenken zu konkretisieren, erschwert jedoch ein eklatanter Mangel an Informationen - angefangen mit dem Aufklärungsstand über die Massenverbrechen von New York und Washington. Von den 19 identifizierten Selbstmordtätern stammten 15 aus Saudi-Arabien, aber keiner aus Afghanistan. Sollte über die Organisatoren, Sponsoren und Befehlsgeber noch immer nicht viel mehr bekannt sein als vor über sechs Monaten? Der Einfluss der Verbündeten auf die militärischen Operationen, die sie ausführen, liegt ebenfalls im Dunkeln. Kennen die Alliierten überhaupt die bisherigen Ergebnisse des Afghanistan-Krieges? Können sie sich ein Bild machen über Erfolg oder Misserfolg der Bombardierungen? In welche weiteren Schritte sind sie eingeplant? Darüber wissen die Bevölkerungen der Unterstützerländer nichts, schlimmer noch: Sie wissen nicht einmal, ob ihre Regierungen etwas wissen.

Ein Nebelschleier breitet sich auch über die unmittelbaren Kriegsfolgen. Der Umfang der Schäden und die Zahl der Opfer sind nicht erfasst. Das Gros der Luftangriffe sei mit Präzisionswaffen geführt worden, versichern die kommandierenden Generäle. Aber auch Cluster- und Cutter-Bomben mit ihrer verheerenden Flächenwirkung kamen zum Einsatz. Wann selbst zielgenaue Angriffe aufhören, verhältnismäßig zu sein, mag ein Beispiel illustrieren: An fünf Tagen im November 2001 bombardierten Kampfflugzeuge fünf verschiedene Gebäudekomplexe in Kabul, Gardez und Khost, um einen dort gesichteten Funktionär der Taliban auszuschalten. Jedes Mal entkam der Gesuchte, aber mehr als vierzig Zivilisten wurden getötet. Anderen Akteuren in anderen Weltgegenden kommt die robuste Mittelwahl zur Legitimation eigener Ambitionen gelegen: Russland im Kaukasus, Indien in Kaschmir, China in Xinjiang, Israel in den besetzten Palästinensergebieten. Terroristenjagd als Politikersatz - auch darin besteht eine prospektive Langzeitfolge der afghanischen Intervention.

Die Unverzichtbarkeit des Rückgriffs auf militärische Mittel zur Terrorabwehr bildet das zentrale Argument in den Erklärungen der Bundesregierung über die deutsche Mitwirkung am Enduring Freedom. Unterstützend werden die Resolutionen 1368 und 1373 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen angeführt. Durch sie sei das Recht der Vereinigten Staaten auf Selbstverteidigung ausgelöst bzw. autorisiert worden. Tatsächlich hat das höchste Entscheidungsgremium der Weltorganisation am Tag nach den Anschlägen eine einzige operative Forderung erhoben: die Täter vor Gericht zu stellen und ihre Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. Und wie wäre das zu bewerkstelligen, müssen sich diejenigen fragen lassen, die der militärischen Antwort misstrauen?

Schon einmal, im Februar 1993, war das World Trade Center Ziel eines terroristischen Angriffs radikaler Islamisten. Dass damals nur sechs und nicht dreitausend Menschen ums Leben kamen, verkleinert die Diabolik des Attentats in keiner Weise. Im Zuge zäher internationaler Ermittlungs- und Fahndungsarbeit wurden alle fünf Täter gefasst - drei noch in New York, einer in Ägypten und schließlich - wenngleich erst zwei Jahre später - gemeinsam durch pakistanische Polizisten und amerikanische Agenten auch der Kopf der Bande in Islamabad. Sie verbüßen ihre lebenslangen Freiheitsstrafen in Haftanstalten der USA. Ein unauffälliger, da ziviler Vorläufer der Allianz gegen den Terror hatte sich bewährt.

Enttabuisierung des Militärischen

Ein mitsprachebefugtes Parlament, eine halsstarrige Koalition, eine verunsicherte Öffentlichkeit, all dies sind lästige Fesseln für eine Regierung, die zu den Großen gehören und in kritischen Weltlagen Entschlusskraft und Handlungsstärke beweisen möchte. Wer ein Schwerverbrechen als Kriegserklärung proklamiert und uneingeschränkte Solidarität verspricht, wird an seine Worte erinnert werden. Der 7. Oktober 2001 war der erste Kriegstag in Afghanistan. Um dieses Datum herum dürfte den Partnern Washingtons bedeutet worden sein, welchen Solidaritätsbeitrag man von ihnen erwartete. In der Bundesrepublik war das innenpolitische Kräftefeld auf die anstehende Entscheidung einzustimmen. Gerhard Schröder nutzte dafür die Foren der Regierungserklärung (11. Oktober) und des gezielten Presseinterviews (18. Oktober, mit der Wochenzeitung Die Zeit). Beide Male ging es ihm darum, den präzedenzlosen Bundeswehreinsatz in einen neu justierten Bezugsrahmen deutscher Außenpolitik einzupassen. "Enttabuisierung des Militärischen" lautete die Schlüsselbotschaft: "Es geht ja nicht darum, dem Militärischen einen unverdienten Raum zu geben, sondern diesen Aspekt der Außenpolitik nicht zu tabuisieren, was lange gemacht wurde."

Welche neue Maxime wird hier verkündet, welche alte revidiert? Alles andere als neu ist das Vokabular, das der Kanzler bemüht. Die wiedererlangte Souveränität, die gewachsene politische Verantwortung, die nötige Anpassung an "normale" internationale Herausforderungen sind Formeln, die sich im zurückliegenden Jahrzehnt der Debatte um Auslandseinsätze der Bundeswehr hinlänglich verschlissen haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keine in sich stimmigen Begründungen liefern, warum ausgerechnet auf militärischem Gebiet ein stärkeres deutsches Engagement geboten sei. Überdies entstammen sie nicht dem Programmfundus der gegenwärtigen Koalitionsparteien. Zu den Erklärungen, mit denen Sozialdemokraten und Grüne vor vier Jahren den Wahlkampf bestritten und ihr Regierungsbündnis besiegelten, stehen sie in offenem Gegensatz.

Neu an den Einlassungen des Bundeskanzlers sind zwei Argumente für "ein weiterentwickeltes Verständnis deutscher Außenpolitik". Zum einen gilt die Zusage, "auch militärisch für Sicherheit zu sorgen", als "Bekenntnis zu Deutschlands Allianzen und Partnerschaften". Die Bereitschaft klingt an, konformes Verhalten gegebenenfalls wider bessere Einsicht zu üben. Zum anderen liege der aktive Solidaritätsbeweis im "nationalen Interesse Deutschlands". Was Schröder selbst als nationales Interesse umschreibt, hält jeder kritischen Nachfrage stand: die Sicherheit der Bevölkerung und ein Leben nach eigenen Vorstellungen. Sein Verteidigungsminister setzt den Akzent schon ganz anders. In der parlamentarischen Aussprache über die besagte Regierungserklärung zur Afghanistan-Intervention besteht Scharping auf einem "umfassenden" Begriff der Sicherheit: "Wir wissen doch alle, dass zum Beispiel die weltwirtschaftliche Stabilität und die weltwirtschaftliche Sicherheit von dieser Region stark beeinflusst werden können, von jener Region, in der 70 Prozent der Erdölreserven des Globus und 40 Prozent der Erdgasreserven des Globus liegen."

Normalität kommt von Norm. Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat ihr normatives Fundament im Grundgesetz und darüber hinaus im Normenkonsens des internationalen Rechts wie es sich z.B. niederschlägt in der Charta der Vereinten Nationen, aber auch im Nordatlantikvertrag. Alle drei verbieten die Anwendung militärischer Gewalt, außer in eng definierten Ausnahmefällen. Enttabuisierung des Militärischen, zumal unter Berufung auf nationale Interessen, kann nur bedeuten, das Verhältnis von Regel und Ausnahme umzukehren. Für einen Vorgang dieser Schwere steht das alarmistische Etikett des Tabubruchs zu Recht. Intervention würde zum Alltagsgeschäft der Bundeswehr und Krieg wieder zum Mittel der Politik.

Kriegsschauplatz Mittelost?

Der Testfall der reformulierten Außenpolitik-Doktrin bahnt sich im Mittleren Osten an. Schon ehe der Bundestag mit der Bereitstellungsfrage befasst wurde, war Fachleuten aufgefallen, dass die Zusammensetzung des deutschen Militärkontingents auf eine andere als die afghanische Konfliktregion hindeutet. Ein Flottengeschwader mit Fregatten und Schnellbooten eignet sich nicht zum Einsatz gegen ein Land ohne Küste; der Verband patrouilliert heute im Arabischen Meer. Sanitäts- und ABC-Abwehrkräfte stellen auf ein Szenario ab, wo mit größeren als nur punktuellen Kampfhandlungen am Boden gerechnet wird. Eine verstärkte ABC-Abwehrkompanie der Bundeswehr hat im Februar 2002 eine Katastrophenschutzübung in Kuwait absolviert. Ihre Ausrüstung, rund 70 Fahrzeuge, darunter "Fuchs"-Spürpanzer, und ein Kernkommando von 50 Soldaten sind in dem Golfstaat verblieben.

Spätestens die Kongressbotschaft Präsident Bushs vom 29. Januar rückte den Irak in das Fadenkreuz Washingtons. Die Fülle interpretierender Erklärungen schuf Gewissheit, dass der "Regimewechsel" in Bagdad, die gewaltsame Entmachtung Saddam Husseins, nicht länger eine erwogene Option, sondern ein gefasster Vorsatz ist. Diplomatische Sondierungen und logistische Vorbereitungen sind angelaufen. Wie steht dazu die Regierung in Berlin? Mitte März hat sie sich festgelegt: Die Bundesrepublik werde an einem amerikanischen Alleingang nicht teilnehmen, sich aber ebenso wenig aus der Krisenregion zurückziehen. Im Kriegsfall kämen die Spürpanzer zum Einsatz, wegen der sonst, so Schröder, "unabsehbaren Folgen für das deutsch-amerikanische Verhältnis". Beteiligung trotz Nichtbeteiligung - wiederum ist zu fragen, um welche Art Krieg es geht.

Vordergründig streiten Washington und Bagdad um die Kontrollkommission, die nach dem Golfkrieg 1991 durch die Vereinten Nationen eingesetzt worden war, um die dem Irak erteilten Entwaffnungsauflagen vor Ort zu überwachen. Im Dezember 1998 eskalierte der Konflikt erneut zum Krieg. Vier Tage lang lag das Land unter Beschuss amerikanischer und britischer Kampfbomber. Ihre Waffeninspekteure hatte die UNO noch rechtzeitig abgezogen. Bagdad ließ sie anschließend nicht wieder einreisen. Seitdem gibt es keine internationale Rüstungskontrollpräsenz mehr im Irak. Wenn die amerikanische von der irakischen Führung verlangt, die Inspektionsteams ihre Arbeit wieder aufnehmen zu lassen, so befindet sie sich im Recht. Zwar hatte die Kommission in den letzten Jahren ihrer Tätigkeit keine schwerwiegenden Verstöße des Irak gegen eingegangene Verpflichtungen mehr registriert, aber ebenso wenig hat sie die vollständige Erfüllung aller Auflagen förmlich festgestellt.

Nach eigenen Angaben verfügt der Irak weder über Massenvernichtungswaffen noch plant er deren Herstellung. Gegenteilige Informationen aus neutraler Quelle liegen nicht vor. Die Auskünfte von Experten lauten heute sehr ähnlich wie 1998: Man habe zwar keinen Anhalt für derartige Aktivitäten, könne sie aber auch nicht ausschließen. Eingestandenermaßen hat das Land bis 1991 chemische Kampfstoffe besessen. Ingenieurwissen lässt sich nicht löschen. Zudem erfordert die Herstellung von C-Waffen keinen übermäßig hohen technischen Aufwand. Seit Jahren beziffert das amerikanische Verteidigungsministerium die Zahl der Staaten auf über 25, die Massenvernichtungswaffen samt zugehöriger Trägermittel entwickeln können. Ob tatsächlich einer oder mehrere von ihnen solche Vorhaben betreiben, könnten nur Vor-Ort-Überprüfungen nachweisen.

Länger als die amerikanische nimmt sich die irakische Beschwerdeliste aus. An der Spitze steht das umfassende Handels- und Finanzembargo, dem das Land seit nunmehr zwölf Jahren unterliegt. Es wird für den Verfall der Wirtschaft und die wachsende Verelendung der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Auch in den Augen westlicher Beobachter verliert die Behauptung irakischer Verstöße gegen Abrüstungspflichten zur Begründung der ökonomischen Abschnürung an Überzeugungskraft. Bagdad nutzt den Hebel der Inspektionsverweigerung, um das Thema der Sanktionen auf die politische Tagesordnung zu setzen. Wann und unter welchen Bedingungen ein Ende der internationalen Ächtung in Aussicht steht, würde auch jede andere irakische Regierung interessieren. Solange die Entscheidung jedoch allein von Washington abhängt, wird der Saddam Husseins Propaganda dienliche Eindruck aufrechterhalten: Ein Ende der Sanktionen steht überhaupt nicht in Aussicht, das Land bleibt stranguliert, gleichviel was es tut oder lässt.

Tatsächlich waren 1991 die Abrüstungsauflagen an den Irak nicht auf Dauer als exklusive Vertragspflichten eines einzelnen Staates gedacht. Vielmehr sollten sie Schritte darstellen auf das langfristige Ziel "einer ausgewogenen und umfassenden Kontrolle der Rüstungen in der Region" (UN-Resolution 687). Regionale Rüstungskontrolle fand jedoch im Mittleren Osten nie statt. Gerade die USA haben sie schon im Ansatz unterlaufen, indem sie ihre Militärpräsenz aus den Tagen des Golfkrieges beibehielten und ausbauten zu einem umfassenden Stützpunktsystem rund um die Arabische Halbinsel. Von dort aus attackieren sie periodisch den irakischen Kontrahenten. Die zu Routine gewordenen Luftangriffe auf militärische Einrichtungen bilden den gravierendsten Kritikpunkt Bagdads an Washington. Allein 1999 trafen 1000 Raketen mehr als 300 Ziele im Irak. Keine rechtliche Legitimierung deckt das selbstherrliche Vorgehen, kein politischer Protest behindert es.

So wie Ariel Scharon das Überleben Yassir Arafats im Libanon-Krieg bedauert, beklagt das politische Washington, Saddam Hussein im Golfkrieg nicht beseitigt oder wenigstens zum Amtsverzicht gezwungen zu haben. Das Versäumte jetzt nachzuholen wäre eine späte Bestrafung, aber kein Beitrag zum "Krieg gegen den Terror". Im Irak sitzen die Islamisten bekanntlich nicht an den Hebeln der Macht, sondern im Gefängnis oder im Exil. Das Regime steht nicht in dem Ruf, fanatische Fundamentalisten zu hofieren. Die heimtückischen Anthrax-Anschläge in den Vereinigten Staaten vom vergangenen Herbst, die anfangs für antiirakische Verdächtigungen herhalten konnten, werden ihm nicht mehr zugeschrieben. Folglich fehlt es an Gründen, ein bewaffnetes Vorgehen gegen den widerspenstigen Ölstaat zur Terrorismus-Vorsorge zu stilisieren.
Wie weiter?

Während Afghanistan schon wieder das Thema von gestern ist, zieht am Golf die nächste Kraftprobe herauf, an der sich der transatlantische Zusammenhalt bewähren soll. Zwischen Solidaritätsreflexen und Skrupeln hin- und hergerissen, reagiert Europa gewohnt vielstimmig und unentschieden. Der gemeinsame Nenner ist der kleinlaute Vorschlag, Saddam Hussein auf diplomatischem Weg die Wiederzulassung von Inspektoren abzuringen. Wer so argumentiert, gibt sich naiver als es die Umstände erlauben. Erstens besteht das Irak-Problem aus mehr als diesem einen Aspekt. Zweitens klingt die Versicherung Bagdads glaubhaft, über Waffenkontrollen allein nicht mehr zu verhandeln. Drittens wird sich der Mann im Weißen Haus, wenn er beschlossen hat, den Widersacher loszuwerden, mit weniger nicht zufrieden geben. Europas Rolle hätte eine andere zu sein. Gefragt ist der Umriss eines politischen Konzepts, das mehr bietet als Stückwerklösungen.

Je mehr die Weltpolitik zu ihrer alten Agenda zurückkehrt, desto schärfer treten die Themen hervor, zu denen beiderseits des Atlantiks unterschiedliche bis gegensätzliche Standpunkte bestehen: Entwicklungshilfe, Klimaschutz, UN-Haushalt, Strafgerichtshof, Kinderrechtskonvention, Teststopp, Raketenabwehr, nuklearer Ersteinsatz, C-Waffen, Biowaffen, Kleinwaffen, Personenminen. Die Liste war schon vor dem 11. September lang, sie ist danach nicht kürzer geworden. Jenseits sachlicher Differenzen illustriert sie die Kluft zwischen außenpolitischen Stilen, Methoden und Instrumenten, gegen die Überzeugungsarbeit schwer aufkommen wird. Denn es wäre ja nicht damit getan, einen Präsidenten und seine wichtigsten Helfer umzustimmen, wenn die Mehrheiten im Kongress und die Meinungen in der Bevölkerung bleiben wie sie sind. Deshalb ist an dem in Berlin beliebten Satz, souveräne amerikanische Entscheidungen habe man nicht zu kritisieren, solange wenig auszusetzen, wie er nicht als Aufruf gelesen wird, sich ihnen zu unterwerfen.

Die Bundesrepublik teilt mit ihren europäischen Partnern Ressourcen und Kompetenzen, an denen weltweit Mangel herrscht. Sie betreffen das Aufgabenspektrum ziviler Konfliktregulierung und Krisenprävention. Sich ihrem Ausbau zu verschreiben, verspricht größeren Nutzen als ein kostspieliger Rüstungswettbewerb mit der Bündnisvormacht um Fähigkeiten, die schon im Übermaß vorhanden sind. Selbst wenn das hohe Ziel, Europa möge mit einer Stimme sprechen und im Gleichklang handeln, auch künftig immer wieder verfehlt werden wird, sind die einzelnen Staaten nicht zur Untätigkeit verurteilt. Die Konferenz auf dem Petersberg abzuhalten, die afghanische Polizei aufzubauen und die Stammesversammlung in Kabul auszurichten sind Beispiele für Initiativen, die keiner multinationalen Einbettung bedurften.

Dass Waffenmacht auch zur Unterstützung nationaler Interessen oder zur Unterstützung der Interessen Verbündeter eingesetzt werden darf, ist eine Auffassung, deren Anhängerschaft wächst. Für eine Außenpolitik, die den Anspruch er hebt, Friedenspolitik zu sein, verbieten sich solche Erwägungen von selbst. Der amerikanische Präsident hat auf dem Höhepunkt der Nahostkrise den israe lischen Ministerpräsidenten davor gewarnt, den Punkt zu überschreiten, wo Selbstverteidigung in ihr Gegenteil umschlägt. Die Mahnung ist auch an die eigene, die westliche Adresse zu richten. Zwischen Verteidigung und Angriff, zwischen Friedenssicherung im Auftrag der internationalen Rechtsgemeinschaft und eigenmächtiger Koalitionskriegsführung verläuft eine klare Grenze. Das fahrlässige Gerede von der Enttabuisierung des Militärischen hilft sie zu verwischen.

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Dokument erstellt am 06.06.2002 um 21:55:09 Uhr
Erscheinungsdatum 07.06.2002