‘”Kaputte Gesellschaften reparieren”? Am besten mit der eigenen anfangen’

von Paul Street

ZNet 08.07.2003

Wird man US-Truppen in die Straßen Amerikas entsenden, um jene massive soziale Reparatur- und Wiederaufbauarbeit zu leisten, die von schwarzen Sklaven, Ex-Slaven und deren Verbündeten während u. nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg eingefordert wurde? Diese impertinente Frage kam mir in den Sinn, als ich neulich den interessanten Report ‘Iraq: The Day After’, herausgegeben vom renommierten ‘Council on Foreign Relations’ (CFR), las. Noch kurz vor der US-Invasion erschienen, bewertet das Dokument die Beteiligung der USA an “Interventionen zum ‘nation building’” als sehr positiv. Faszinierend der Report-Kommentar von James F. Dobbins (Direktor des ‘Rand Corporation Center for International Security and Defense Policy’). Dobbins - während der US-Interventionen in Somalia, Haiti, Bosnien, Kosovo u. Afghanistan Spezialgesandter des Weißen Hauses - war Mitglied jener Task Force, die obigen CFR-Report verfasste. In seinem Kommentar verkündet Dobbins: “Die Parteien-Debatte”, in den USA, “ist vorbei”.“Die Administrationen beider Parteien sind klar bereit, Amerikas militärische Stärke einzusetzen, wenn es darum geht, Schurkenstaaten zu reformieren und kaputte Gesellschaften zu reparieren” (S.48). Vergessen wir einen momentlang, dass der größte Teil der Menschheit, soweit politisch denkend, die USA als den globalen Oberschurken sieht (mit gutem Grund). Und vergessen wir auch, dass die USA dem Irak weniger“Reparatur” denn Reparationen schulden - angesichts der über 1 Million Irakis, die infolge der amerikanischen Politik starben (mörderische Anstachelung des Iran-Irak-Kriegs in den 80gern,‘Dessert Storm’ u.‘Dessert Fox’ sowie die tödliche Sanktionen-Kampagne in den 90gern). Vergessen Sie all diese Tatsachen für einen Moment - wenn Sie können -, und vergegenwärtigen Sie sich die geradezu aristokratische Indifferenz (Dobbins) gegenüber den Realitäten im eigenen Land (nicht zuletzt zu besichtigen in der getto-durchwachsenen Hauptstadt Amerikas, wo mindestens 1/3 aller Kinder in Armut leben) - eine solche Indifferenz wird wohl nötig sein, um ausgerechnet den USA die Fähigkeit zuzusprechen“kaputte Gesellschaften zu reparieren”. Schon bevor 2001 und 2003 George W. Bushs extrem regressive Steuerkürzungen verabschiedet wurden, waren die USA das Land mit der bei weitem höchsten Ungleichheit u. einseitigsten Reichtumsverteilung in der gesamten industrialisierten Welt. Die reichsten 10 Prozent unserer Bevölkerung besitzen mehr als 70 Prozent des nationalen Vermögens. Die reichsten 5 Prozent unserer Familien beziehen soviel Einkünfte wie die unteren 50 Prozent zusammen. Das ist der Grund, weshalb sich (mehr als) 9 von 10 Amerikanern um die verbliebene Hälfte der American Pie streiten. Hinzu kommt: diese krasse Ungleichheit ist begleitet von wachsender, massiver Armut am Sockel der Pyramide. Das Problem wirklicher Armut ist überall in den USA gegenwärtig und das zunehmend u. massiv. Letztes Jahr gab‘Second Harvest’ - das größte Foodbank-Netzwerk der USA - bekannt, dass im Jahr 2001 schon 23 Millionen Amerikaner auf die Agenturen der Foodbank angewiesen waren. Und im Jahr davor gab das US-Landwirtschaftsministerium bekannt, dass die Zahl hungernder oder von Hunger bedrohter Amerikaner bzw. die Zahl derer, die keinen gesicherten Zugang zu Nahrung haben, inzwischen bei 34 Millionen liegt. Letzten Sommer gab das Büro des US-Zensus bekannt, die Zahl der in Armut lebenden Amerikaner sei im Jahr davor auf 33 Millionen angestiegen - von 11,3 auf 11,7 Prozent der Bevölkerung. Mehr als 12 Millionen, also 17 Prozent, aller Kinder in den USA leben in Armut, davon sind mehr als 4 Millionen unter 6 Jahren. Die US-Kinderarmutsrate ist damit wesentlich höher als in anderen Industrienationen. Mehr als jedes dritte Kind in den USA lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze. Und mehr als 8 Millionen Menschen, darunter 3 Millionen Kinder, leben in Haushalten, in denen regelmäßig Mahlzeiten ausfallen oder die Portionen zu klein sind.

Mehr als 42 Millionen Amerikaner - über 16 Prozent der Bevölkerung, darunter über 8 Millionen Kinder - sind nicht ausreichend krankenversichert. Amerikaner haben die längste Arbeitszeit in der ganzen industrialisierten Welt. Die ohnehin verbreitete Arbeitsplatz-Unzufriedenheit bei uns wird so noch vergrößert, u. die langen Arbeitszeiten verschärfen in der US-Bevölkerung die Krise des bürgerlichen Engagements bzw. fördern Disengagement. Die Nation, die sich selbst Heimat und Hauptquartier der Weltfreiheit nennt, stellt 5 Prozent der Weltbevölkerung, jedoch mehr als 25 Prozent der Weltgefängnisbevölkerung. Das‘Land der Freiheit’ ist stillschweigend zum Land mit der höchsten Inhaftierungsrate auf dem Planeten mutiert (von etwa 100 pro 100 000 Einwohner im Jahr 1970 auf heute 699 pro 100 000). In den USA sterben mehr als 25 000 Menschen durch Schusswaffen (mehr als 75 pro Tag) - je etwa zur Hälfte durch Selbstmord u. Fremdtötung. 1999 starben 3 365 Kinder u. Jugendliche unter 20 Jahren durch Schusswaffen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Horror-Statistik, die zeigt, Amerika hat selbst großen Reparaturbedarf. Unsere Gesellschaft ist kaputt, sie produziert pathologische Lügner u. feixende Henker wie George W. Bush, krypto-faschistoide Al-Capone-Bewunderer wie Donald Rumsfeld, Terroristen wie Timothy McVeigh, verrückte Massenmörder wie Dylan Kliebold, Eric Harris, Allen Muhammed, John Lee Malvo oder aktuell Doug Williams. Sie erinnern sich, vor 3 Wochen erschoss Doug Williams im Lockheed-Martin-Werk von Marion, Mississippi 4 schwarze u. einen weißen Kollegen (und anschließend sich selbst) mit einer 12-Schuss-Flinte u. einem halbautomatischen Gewehr. Wie MSNBC berichtete,“beschreiben Kollegen Williams als“Rassisten”, der sich angeblich“über Schwarze beschwerte” (worin diese‘Beschwerden’ bestanden, wird nicht ausgeführt). Er sei dazu“fähig gewesen zu töten”. Das unterscheidet ihn keineswegs von seinem Arbeitgeber Lockheed Martin - ein Militärkontraktor von gigantischer Größe, der für ungezählte Gewaltopfer rund um den Erdball verantwortlich zeichnet.

In der amerikanischen Geschichte waren es stets diejenigen, deren US-Wurzeln die Sklavenschiffe sind, die die Hauptlast dieser Fraktionierung der amerikanischen Gesellschaft zu tragen hatten. Mehr als dreieinhalb Dekaden liegen die historischen Siege der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zurück, und die weiße Bevölkerung denkt für gewöhnlich, alle antirassistischen“Korrekturen” seien in Vollzug (nein, das ist kein Knast-Wortspiel, siehe unten).‘Gleichheit’ ist für Afro-Amerikaner aber nach wie vor ein illusionäres Ziel. In der Nation mit der höchsten Armutsrate, mit der größten Gerechtigkeitslücke zwischen Arm und Reich in der ganzen industrialisierten Welt, sind Schwarze noch immer wesentlich ärmer dran als Weiße oder Angehörige anderer Rassen / ethnischer Gruppen. Wirtschaftliche Ungleichheit ist bei uns stark mit der Rassenfrage verknüpft. Das schwarze Amerika bildet eine Art periphere‘Dritte Welt’ inmitten des versteckten Herzens der Super-Hegemonialmacht dieses Weltsystems. Afro-Amerikaner haben gegenüber Weißen ein dreifach höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Die Armutsrate liegt über dreimal so hoch. Das Durchschnittseinkommen schwarzer Haushalte beträgt $29 000 (im Jahr) - was weniger als 2/3 des Durchschnittseinkommens weißer Haushalte ausmacht. Das Haushaltsnettovermögen schwarzer Haushalte beträgt im Durchschnitt weniger als 10 Prozent (!) weißer Haushalte. Schwarze leben normalerweise in einer Wohngegend, in der das Durchschnittseinkommen rund 70 Prozent der weißen Haushalte beträgt. Schwarze sind, im Gegensatz zu Weißen, viel seltener im Besitz ihrer eigenen vier Wände. Fast 3/4 aller weißen Familien jedoch weniger als die Hälfte aller schwarzen sind im Besitz ihres eigenen Heims. Der Schwarz-Weiß-Kontrast bei Beschäftigung, Einkommen u. Vermögen trägt maßgeblich dazu bei, dass die wenigsten Schwarzen an kritischen Punkten ihrer Biografie - College, Heiraten, Hauskauf - auf die notwendige finanzielle Unterstützung rechnen können, die Weißen normalerweise zuteil wird. In unserer kaputten Gesellschaft, die ihre Chancen überwiegend Weißen zuschanzt, ist es tragischerweise so, dass junge männliche Schwarze eher im Gefängnis landen als auf dem College. Massiver Rassismus ist neben dem schierem Ausmaß das auffälligste Merkmal des amerikanischen Gefängnis-Booms ( und der nicht weniger boomenden generellen Kriminalüberwachung). Die Gefängnispopulation nimmt zu, die Zahl weißer Inhaftierter jedoch massiv ab. Noch 1979 lag der Anteil nicht-hispanischer Weißer in US-Staatsgefängnissen bei 42%, Ende des 20. Jahrhunderts war er auf weniger als 1/3 geschrumpft. Es gibt keinen Zweifel, welche Gruppe am massivsten betroffen ist: Schwarze. Sie stellen zwar lediglich 12,3% der US-Bevölkerung jedoch rund die Hälfte der derzeit inhaftierten etwa 2 Millionen Amerikaner. Zwischen 1980 u. 2000 stieg der Anteil schwarzer Männer im Gefängnis / Zuchthaus um das Fünffache - um 500 Prozent! Die Entwicklung ist, laut‘Justice Policy Institute’ (2002), an einem Punkt angelangt, wo mehr schwarze Männer hinter Gittern sitzen als in US-Colleges oder -Universitäten eingeschrieben sind. An jedem x-beliebigen Tag, so Chaiken, stehen 30% der männlichen afro-amerikanischen Bevölkerung zwischen 20 u. 29 unter Justiz-Aufsicht: Gefängnis, Zuchthaus, Bewährung, bedingte Strafaussetzung.

In meinem Heimatstaat Illinois sind (fast) 20 000 mehr schwarze Männer in Landesgefängnissen als auf öffentlichen Landes-Universitäten zu finden. Um die steigende Zahl überwiegend schwarzer Häftlinge unterzubringen, hat Illinois seit 1980 20 neue Gefängnisse für erwachsene Straftäter bauen lassen - alle‘downstate’, also im unteren Landesteil. Die hohe Inhaftierungsrate sorgt für Arbeit, die vom Zensus erfasste Bevölkerung wächst, es gibt mehr Steuergelder - das alles kommt in den‘Gefängnisstädten’, mit ihrer überwiegend weißen Bevölkerung, tausenden Menschen zugute: Masseninhaftierung als Lösung des lokalen Arbeitslosenproblems, das wiederum Folge des Farmsterbens u. der Schließung von Fabriken, Minen u. Werken ist.

“Vollzug”: Die ethnisch-demographische Schieflage unseres amerikanischen Vollzugssystem im US-Zeitalter der Masseninhaftierung verleiht dem frommen christlichen Satz:“sei deines Bruders Hüter” (bzw. deiner“Brüder”) eine ganz neue,‘schwarzgefärbte’ Bedeutung - tragisches Erbe des brutalen 250-jährigen Regimes der schwarzen Chattel-Sklaverei*. Die verheerenden Folgen dieses Regimes für die Afro-Amerikaner bzw. die amerikanische Gesellschaft sind nach wie vor lebendig. Und während die amerikanischen“Eliten” behaupten, es ginge ihnen um die“Befreiung” der Iraker von“Unterdrückung” - eine Haltung, die bislang mehr als $40 Milliarden kostete -, bringen sie für das schwarze Amerika nicht mal eine offizielle Entschuldigung auf, ganz zu schweigen von Reparationszahlungen - für jenes kriminelle Sklaverei-System und dessen Folgen. Seit den 90gern ist es in Kreisen bestimmter US-Intellektueller sogar Mode, zu behaupten, das weiße Amerika hätte den Schwarzen im Grunde einen Gefallen getan, als es sie versklavte. Auf diese Weise seien die Schwarzen wenigstens der ach so zwangsläufigen Hölle des modernen Afrika entgangen (abgeschnitten von allen Segnungen des westlichen Imperialismus). Dass Schwarze disproportial arm sind, sei Zeichen ihrer genetischen Minderwertigkeit.

Im April konstatierte der ‘Children’s Defense Fund’ (CDF): Mehr als 1 Million afro-amerikanische Kinder leben derzeit in “massiver Armut”. Sie leben in Haushalten, die über weniger als die Hälfte jenes Einkommens verfügen, bei dem laut Festlegung der US-Regierung (und diese Festlegung ist immer zu niedrig) die Armut beginnt. Eine dramatische Verschlechterung seit Anfang 2000 - damals galten “nur” 686 000 schwarze Kinder als so drastisch von Armut betroffen. Eine wirkliche “Leistung” - Bush wird sie jedoch kaum in seiner Wiederwahlkampagne erwähnen, ebensowenig die Tatsache, dass während seiner Amtszeit 1,7 Millionen amerikanische Arbeitsplätze verlorengingen. Die Aussagen des CDF-Report erfuhren kurzzeitige Beachtung, als sie in der New York Times erwähnt wurden (‘Report Finds Number of Black Children in Deep Poverty Rising’, von Sam Dillon, am 30. April 2003). Auch in verschiedenen anderen Mainstream-Blättern wurde darüber kurz berichtet, bevor der Bericht rasch wieder in der Versenkung verschwand. Die Medienberichterstattung über das Thema geriet in den Hintergrund, als Tage später Enthüllungen über den führenden rechten Moralkreuzzügler und republikanischen Politikstrategen und Bildungs- bzw. “Tugend”-Magnaten William J. Bennett bekanntwurden. Bennett soll ein zwanghafter Spieler sein. Glaubt man den Berichten, so ist der Ex-Bildungsminister u. Vorsitzende der Nationalen Stiftung für Geisteswissenschaften der Traum jedes Casino-Besitzers. Allein im letzten Jahrzehnt soll Bennett “mehr als $8 Millionen verloren” haben - an Spielautomaten in Las Vegas. Eine Schande. Warum können Bennett und seine reaktionäre republikanische Gilde nicht begreifen, wie wichtig es ist, ein paar dieser Millionen (besser noch Milliarden) den Körpern u. dem Geist schwarzer amerikanischer Kinder zugutekommen zu lassen - Kinder, die in zunehmender“massiver” Armut leben müssen. Und Amerikas ach so moralisches Bemühen, den Irak zu“befreien”, lässt diese Kinder noch irrelevanter werden. Den“kollateralen” Nutzen haben Haliburton, Bechtel u. andere‘Bedürftige’, die sich einreihen in die Schlange der Empfänger von‘general welfare’. Bedauernswert, dass Bennetts kleine Schwäche in den Mainstream-Diskussionen nie auf dem Hintergrund des CDF-Reports u. dessen Fakten beleuchtet wurde. Die Kommentatoren verharren stattdessen auf Charles-Dickens-Niveau: Ist das etwa ein angemessenes Verhalten für einen so reichen Mann? Diese bourgeoise, moralinsaure Ebene eben. Über die tiefere Immoralität einer sozialen Struktur (deren Entstehung u. Aufrechterhaltung), die es zulässt, dass ein einzelner Mann sich damit amüsiert, Münzen in eine Maschine zu werfen, deren Summe das Lebenseinkommen von 9 von 10 seiner Mitbürger übersteigt - darüber sagt niemand etwas. Aber so läuft das in unserer“kaputten Gesellschaft” - einer Gesellschaft, deren Bruchlinien Rasse und Klasse darstellen (beides ist miteinander verwoben, und beides hat mit brutaler Ungleichheit zu tun).

Falls US-Polit-Intellektuelle wie James Dobbins sich wirklich für Ursache u. Wirkung einer “kaputten Gesellschaft” interessieren, brauchen sie nicht extra nach Bagdad zu reisen. Ich empfehle ihnen eine Fahrt nach Benton Harbor in Michigan. In dieser geradezu grausam de-industrialisierten Stadt leben überwiegend schwarze Menschen. Mehr als die Hälfte der Kinder - 40% aller Familien - lebte dort in der Endphase des vielgepriesenen Wirtschaftswunders der 90ger in offizieller Armut. Das durchschnittliche (jährliche) Haushaltseinkommen in Benton Harbor betrug zu diesem Zeitpunkt $17 471 - was weniger als 2/3 dessen ist, was eine Familie minimal zu ihrer Grundversorgung braucht (die Realkosten der Armut, sorgfältig berechnet von‘The Economic Policy Institute’). Für ein alleinerziehendes Elternteil plus 2 Kinder wären das in Benton Harbor $28 422. Seit die katastrophale Bush-Administration an der Macht ist, haben sich die Verhältnisse in Benton Harbor sicherlich noch massiv verschlechtert. Dieser Machtantritt wurde ermöglicht durch die skandalöse u. unter-publizierte Tatsache, dass man in Florida Schwarze wahllos aus den Wählerlisten gestrichen hat - unter Oberaufsicht von Jeb Bush. Wie ein Geistlichen hier erklärte, ist derzeit nicht mal jeder dritte schwarze Mann in Benton Habor beschäftigt. Vor 2 Wochen war Benton Harbor Schauplatz der zweiten größeren Rassenunruhen seit den Terroranschlägen des 11. September (2001) - Anschläge, die angeblich alle freiheitsliebenden Amerikaner gegen die terroristischen Feinde unserer Nation vereint haben. Ursache war der Tod des populären schwarzen Motorradrennfahrers Terrence Shurn nach einer polizeilichen Verfolgungsjagd. Im Anschluss war es 2 Nächte lang zu Unruhen gekommen. Shurn war aber nur das jüngste schwarze Opfer in einer Serie tödlicher Eskapaden, die sich eine von Weißen dominierte Strafjustiz (in u. um Benton Harbor) leistete. Hunderte Einwohner der Stadt zogen hierauf durch ein 8 Block großes Areal. Einige von ihnen legten Feuer oder griffen Passanten an. Die New York Times berichtet in ihrer Titelstory:“die Randalierer sangen‘no justice, no peace’ (ohne Gerechtigkeit keinen Frieden), während sie Fahrzeuge umwarfen und kleine Feuerbomben in die Häuser warfen; mit Flaschen und Steinen warfen sie Fensterscheiben ein und verletzten so 12 Menschen”. Und die Chicago Tribune:“Die Unruhen waren so massiv, dass Feuerwehrautos und Polizeiwagen von mehreren Gewehrkugeln durchsiebt wurden beziehungsweise von Ziegelsteinen getroffen, bevor man sich zurückzog. Die Harbor Benton Polizei gibt an, mehrere Schüsse auf die Menge abgefeuert zu haben, es sei jedoch niemand getroffen worden”. Eine Episode aus: unsere“kaputte Gesellschaft” - mit einem Schuss“Schurkenstaat”-Action.

Oder schicken wir unsere Polit-Intellektuellen doch nach Chicago - in die South Side oder die West Side. 20% der Bevölkerung dort leben in Armut, 10% sind sehr, sehr arm (Stand: 2000). In Chicagos 10 Postleitzahlbezirken mit dem höchsten afro-amerikanischen Anteil - mehr als 90% Schwarze - sind 17% der Leute massiv arm, also mehr als eine von sechs Personen. In 15 der 77 offiziellen Community Areas der Stadt wachsen mehr als 25% der Kinder in massiver Armut auf. Außer einem liegen alle diese 15 Bezirke in vorwiegend von Schwarzen bewohnten Gegenden in Chicagos South bzw. West Side. In 6 der überwiegend von Schwarzen bewohnten Bezirke leben mehr als 40% der Kinder in massiver Armut - in Riverdale, einem dieser Bezirke, lebt die Hälfte der Kinder in dieser unvorstellbaren Armut.

Oder was ist mit unseren großen Denkern am Beltway? Warum bequemen sie sich nicht aus ihren klimatisierten Büros und begeben sich in die angrenzenden Slums der Hauptstadt unseres Landes. Washington ist eine quasi bankrotte Stadt mit der weltweit höchsten Rate an (Text unvollständig). Und jene Täuschungs-Süchtigen im Weißen Haus, die vorgeben, sich für das furchtbare Elend in der“reichsten Nation der Welt” zu interessieren. In Wirklichkeit sind sie geprägt vom Gänsehaut-Rassismus des“freien Markts” Marke Grover Norquist - eines rechten Politstrategen. Norquist erklärtes“Ziel ist es, den Staat (“government”) innerhalb von 25 Jahren so zu halbieren, dass er eine Größe hat, mit der wir ihn bequem in der Badewanne ersäufen können”. Natürlich rücken Nordquist u. seine Verbündeten mit ihren Kleinholzplänen manchen Teilen des Staats,“government” genannt, mehr zu Leibe als anderen. Besonders abgesehen hat man es anscheinend auf jenen Teil des öffentlichen Sektors, der den sozialen u. demokratischen Bedürfnissen der weniger betuchten Bevölkerungsmehrheit Amerikas zugutekommt. Wo es hingegen um kostenlosen Service bzw. um‘welfare’ für die reiche, privilegierte Minderheit des Landes geht oder um Bestrafung und weitere Verelendung der Armen, wird der Budget-Guillotine wie durch Zauberhand Einhalt geboten - der Guillotine unserer neo-reaganitischen, republikanischen Regressions-Robbespierres u. ihrer feigen demokratischen Nichtverhinderer.

Im Zeitalter des neoliberalen Garnisons-Staats - was ist da für einen erfolgreichen amerikanischen Politiker eine noble öffentliche Tat? Ganz einfach: Er baut ein neues Gefängnis - noch eins - oder er greift ein harmloses aber ölreiches Land am andern Ende der Welt an und besetzt es, um eine weitere teure Militärbasis in einer fernen, nicht-weißen Ecke des Planeten zu installieren; er verseucht die ohnedies schon verseuchten Ströme u. Felder Iraks mit noch mehr angereichertem Uran. Angereichertes Uran gelangt auch in das Blut der US-Soldaten; die meisten von ihnen entstammen der Arbeiterschicht und haben disproportional oft eine schwarze Hautfarbe. Oder dieser Politiker startet eine neue Initiative zur Überwachung des heimischen Volks bzw. zu dessen Manipulation. Wenn es um Sozialdemokratie für die Menschen geht, heißt es, der öffentliche Sektor sei“kaputt”; dreht es sich hingegen um die Reichen und deren Bedürfnisse, um Repression, um die Förderung der Rassenunterschiede, ums Empire, dann ist Geld in Hülle und Fülle vorhanden.

Interessant, wie begeistert diese Leute vom Reparieren“kaputter Gesellschaften” sprechen. Leute, die längst mit den Gründervätern u. deren Verpflichtung zum Erhalt der elementaren Integrität des gesellschaftlichen Ganzen bzw. dem damit verbundenen Gründerväter-Denken, dass Leben u. Gesellschaft mehr seien als die ewige Hatz nach individuellem Reichtum u. persönlichem Vorteil, gebrochen haben. Die, die heute im Weißen Haus regieren bzw. deren Verbündete - in- u. außerhalb der Regierung - sind gleichzeitig Agenten und Spiegelbild unserer kaputten Gesellschaft.

Nur auf den ersten Blick paradox, wenn Dobbins und seinesgleichen versuchen (vorgeblich versuchen), eine fremde Gesellschaft zu reparieren, sich also im Ausland in ‘nation building’ üben, während man gleichzeitig die horrende Spaltung des eigenen sogenannten“Heimatlandes” ignoriert bzw. weiter vorantreibt.‘Nation building’ im Ausland bringt nunmal mehr ein - an Geld, an Kontrolle - als‘nation building’ im eigenen Land. Es bringt Geld und Kontrolle für die miteinander verwobenen Zentren der Finanz-, Politik- und Konzern-Macht. Säbelrasseln ist u. war (nicht nur heute) ein ganz normaler Eckstein der glorreichen weißen Politikstrategie Amerikas - Säbelrasseln gegen die‘Bösen’ im Ausland als nützliches Gegengift gegen die Unzufriedenheit der Bevölkerung im eigenen Land - die sich in sozio-ökonomischer Hinsicht u. damit verbunden infolge der tiefen Ungleichheits-Kluft in der eigenen Heimat zunehmend unsicher fühlt. Wie schrieb James Madison schon im Jahr 1799:“die Fesseln, die man der Freiheit in der Heimat anlegt, wurden von je aus den Waffen geschmiedet, die man sich zur Verteidigung gegen wirkliche, angebliche oder eingebildete ausländische Gefahren zugelegt hat”. Die Linke wusste es schon immer: Widersprüche im Innern und der Versuch der internen Machtstruktur einer Imperial-Nation, den gefährlichen Konsequenzen dieser Widersprüche zu entkommen - sie sind die Quelle des Imperialismus. Die institutionellen und ideologischen Konfigurationen des modernen Imperialismus unterscheiden sich zwar maßgeblich von denen Anfang des 20. Jahrhunderts, als der britische Autor J.A. Hobson lebte. Die Widersprüche hingegen funktionieren immer noch so wie zu Hobsons Zeit; damals bezeichnete er sie als“Pfahlwurzel des Imperialismus”. Und noch immer manifestiert der Imperialismus eine starke (wenn auch immer verstecktere, kaschiertere) rassistische Dimension - schließlich ist Imperialismus hauptsächlich eine Sache der Weißen (tschuldigung, Powell und Rice). Seine Opfer sind überwiegend Nicht-Weiße - weltweit. Imperien, die oftmals die Gesellschaft des unterworfenen Landes zerbrechen - siehe Indien im 18. u. 19. Jhd. oder Irak in den 1990gern - sind im eigenen Land häufig nicht minder gebrochene Gesellschaften. Echte, dauerhafte Abhilfe kann nur geschaffen werden, indem man nicht nur im Ausland sondern auch daheim repariert bzw. Reparationen zahlt.

Paul Street (pstreet@cul-chicago.org) ist ‘urban social policy researcher’ u. Autor: ‘The Economy is Doing Fine, It’s Just the People that Aren’t: Towards a Social-Democratic Alternative to the Indexes of Leading Economic and Cultural Indicators’, Z Magazine (November 2000) online: www.zmag.org/zmag//articles/nov00street.htm und: ‘How You Gonna Export Something You Ain’t Even Got At Home?’ Chicagoer Bemerkungen, siehe: http://www.blackcommentator.com/ Weitere Übersetzungen von Street-Artikeln hier auf unserer ZNet-Seite.

Anmerkung d. Übersetzerin

*’chattel slavery’ (von‘cattle’ =‘Vieh’). Schwarze Menschen mit dem Status von‘Vieh-Sklaven’ wurden im amerikanischen Süden vor dem Bürgerkrieg wie Vieh ge- und verkauft.

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Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "The "Repair" of "Broken Societies" Begins at Home"