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II.  Neuordnungspläne – Streit um die Hoheit über den Irak

Ende August ließ Pentagonchef Donald Rumsfeld laut Financial Times seinen Mitarbeitern den Film „Die Schlacht von Algier“ zeigen, der von der Niederlage der französischen Besatzungstruppen gegen einen entschlossenen Widerstand in Algerien handelt. Der Film zeige, so die britische Zeitung, dass „ausgefeilte Taktik und überlegene Stärke kein Ersatz für eine kohärente Strategie und internationale Legitimität“ sei. Beides vermisst das Blatt im Irak. Unfähig „die Straßen oder die Grenzen, das Wasser oder die Stromversorgung zu kontrollieren“ seien die alliierten Truppen nicht einmal in der Lage, „die Verbündeten und Institutionen zu schützen, die sie benötigen, um den Irak wiederaufzubauen“: Am 19. August waren bei einem Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad der Sondergesandte der UNO, Sérgio Vieira de Mello und zwanzig weitere UN-Mitarbeiter ums Leben gekommen. Zehn Tage später war der SCIRI-Führer Ayatollah Al Hakim unter den 82 Opfer eines ähnlichen Anschlags in Najaf.

 

Die Anschläge waren auch für viele US-Amerikaner der Beweis, dass die 140.000 im Irak eingesetzten Truppen nicht in der Lage sind, die Situation in den Griff zu bekommen. Als naheliegendste und schnellste Lösung forderten daraufhin einflussreiche US-Politiker eine massive Erhöhung der Zahl eigener Truppen. Führende US-Militärs hatten von Anfang an auf eine größere Truppenstärke gedrängt. Der damalige Generalstabschef der US-Armee, General Shinseki, hatte im Februar 2003 vor dem Kongress angegeben, nach einer erfolgreichen Invasion seien „mehrere hunderttausend Soldaten“ nötig, um den Irak zu „stabilisieren“.[67]

 

US-Verteidigungsminister Rumsfeld hat – u.a. auch mit dem Hinweis, dass mehr Truppen mehr Ziele für die Guerilla bedeuten – dennoch eine Erhöhung der Truppenstärke bisher strikt abgelehnt. Sie wäre ohne massive zusätzliche Truppenmobilisierungen und Abzug aus anderen Bereichen und Einsatzorten auch gar nicht über einen längeren Zeitraum möglich.[68]  Die Einsatzzeiten im Irak waren ohnehin schon auf mindestens ein Jahr verdoppelt worden, was zu erheblichen Unruhen unter den Soldaten und ihren Angehörigen führte.

Statt zusätzlicher Soldaten will Rumsfeld den Anteil der für Counter Insurgency ausgebildeten Spezialtruppen erhöhen und mehr Iraker rekrutieren. Bisher waren allerdings trotz Arbeitslosigkeit und allgemeiner Not nur wenige irakische Männer dazu bereit.

Internationalisierung der Besatzung

Angesichts der wachsenden Probleme drängen Washington und London auf mehr internationale Unterstützung. Trotz aller Bemühungen waren bisher nahezu alle Versuche gescheitert, bedeutendere Staaten zu einem militärischen oder finanziellen Beitrag im Irak zu bewegen. Viele hatten deutlich gemacht, dass ein Engagement im Irak ohne größere eigene Mitsprache und mehr Autorität für die UNO nicht in Frage komme. Während sich die Mehrheit der Bush-Administration gegen ein solches Entgegenkommen sperrt, wächst auch in den USA die Zahl derer, die eine solche Teilung der Autorität befürworten. [69]Diesen geht es nicht nur um mehr Truppen und die Verteilung der explodierenden Besatzungskosten auf mehr Schultern, sondern vor allem auch um eine Änderung des Charakters des Besatzungsregimes.

Die „International Crisis Group“ (ICG), ein einflussreiches transatlantisches Beratungsgremium, dem viele prominente westliche Politiker und Sicherheitsexperten angehören, hat in ihrem Papier „Das Regieren des Iraks“ detaillierte Vorschläge dazu ausgearbeitet. Sie dürften weitverbreitete Vorstellungen beiderseits des Atlantik wiederspiegeln.

Die ICG hält die „Coalition Provisional Authority“ (CPA), wie die Besatzungsbehörde genannt wird, für unfähig, „angemessen für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sorgen und den Irak erfolgreich zu regieren.“ Für unrealistisch hält sie auch, dass der provisorische „Regierende Rat“ unter den aktuellen Bedingungen von den Irakern oder von anderen Staaten als „glaubwürdige, legitime und handlungsfähige Institution“ angesehen werden könne. Die Besatzungsbehörde sei im Irak völlig isoliert und unfähig mit der Bevölkerung zu kommunizieren.[70]

Ein Rückzug der Besatzungsmächte wird auch von der ICG nicht in Betracht gezogen. Eine UN-Mission mit ausreichender Autorität könnte aber, so die Überlegung, hier eine Mittlerrolle und multinationale UN-Truppen aus Ländern, die sich nicht am Krieg beteiligten, geeignete Puffer spielen.

Die UNO sollte Verantwortung für alle zivilen Aspekte der Neuordnung erhalten und den Übergangsrat kontrollieren, der wiederum so viel Regierungsgewalt erhalten solle, wie möglich. Eine vollständige Übergabe der Macht stünde allerdings erst zur Debatte, wenn die Situation unter Kontrolle sei. Um dies zu erreichen, sollen die Besatzungstruppen in eine multinationale UN-Truppe unter Führung der USA überführt werden. Die Besatzung sei zwar durch den Sicherheitsrat „legalisiert“ worden, doch nötig sei eine zweite Resolution, die sie „legitimiert“ und der UNO ein „klares politisches Mandat“ gebe, so auch die ähnlich argumentierende Financial Times[71].

Die Vorschläge zielen vor allem auf das Image des Unternehmens. Sie sollen, so die ICG, die verbreitete „Wahrnehmung“ verringern, die USA wollten den Irak beherrschen und stattdessen das „Bild“ eines breiten internationalen Engagements vermitteln und damit auch den „Eindruck von Rechtmäßigkeit“ in den Augen der irakischen Bevölkerung stärken.[72] Eine neue UN-Resolution, könne, so auch Pentagonchef Rumsfeld, „einigen Ländern das Gefühl vermitteln, dass es mehr eine internationale Aktivität ist, in der sie engagiert sein werden“[73] Diese Schritte würden den Widerstand, nach Ansicht der ICG, keineswegs eliminieren, sie würden ihn wahrscheinlich aber dämpfen.[74]

Da die führende Rolle der USA nicht in Frage gestellt wird, laufen die Vorschläge auf ein internationalisiertes Besatzungsregime hinaus, unter dem die Neuordnung des Irak weiterhin im wesentlichen nach westlichen, vorwiegend US-amerikanischen Vorstellungen vorgenommen würde. Angesichts der Machtverhältnisse im maßgeblichen Sicherheitsrat würde daran auch eine stärkere Rolle der UNO wenig ändern. Die UNO „als die institutionelle Verkörperung internationaler Legitimität“ soll der – an sich nur wenig modifizierten – Fremdherrschaft nur den nötigen legalen Rahmen verschaffen und realistische Chancen auf einen kontrollierten Übergang von Regierungsgewalt in die „richtigen“ irakische Hände eröffnen.

Die ICG hält daher ihre Vorschläge durchaus auch als für die US-Regierung annehmbar. Das ist einsichtig. Letztlich würde auf diese Weise auch der aus US-Sicht unangenehm kritische Blick der Weltöffentlichkeit auf das Agieren der Besatzungsmächte entschärft. Die Erfahrungen mit dem ersten Krieg gegen den Irak und dem Embargo zeigen, dass mit einem UNO-Cover die internationale Kritik auch im Angesicht von Massenelend und hohen Opferzahlen verhalten bleibt.

Dass sich eine Mehrheit der Iraker mit einer solchen internationalisierten Besatzung anfreunden könnte, ist wenig wahrscheinlich. Sie wäre aber geeignet, dem Widerstand seine Legitimation zu nehmen: Widerstandskämpfer würden sich – zumindest in der westlichen Wahrnehmung – nicht mehr völlig legitim einer offensichtlichen Fremdherrschaft widersetzen, sondern „Friedenssicherungsmaßnahmen“ der „internationalen Staatengemeinschaft“.

 

Trotz aller Schwierigkeiten kommt für die Hardliner in Washington um Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz eine Beteiligung anderer Staaten an der Kontrolle im Irak und am wirtschaftlichen Neuaufbau nicht in Frage. Es würde nicht nur ihren Plänen am Golf zuwiderlaufen, sondern auch einem ihrer zentralen strategischen Ziele, die Vorherrschaft der USA gegenüber allen potentiellen Konkurrenten, zu denen sie auch die Großmächte der EU zählen, auf Dauer zu bewahren.[75] Da es für sie von eminenter Bedeutung ist, wie die amerikanische Macht im Nahen und Mittleren Osten wahrgenommen wird, sehen sie in einer aus der Not geborenen Internationalisierung nur ein Signal der Schwäche. [76]

 

Die Bürde gemeinsam tragen

Deutschland und Frankreich hatten Bushs Irak-Feldzug, der sich auch gegen ihre eigenen Interessen im Nahen Osten richtete, nicht verhindern können. Was sie tun konnten, war ein Umfeld zu schaffen, das die politischen und materiellen Kosten des Krieges für die USA in die Höhe treiben würde, in der begründeten Hoffnung, dass der Hegemonialmacht bei ihrem Quasi-Alleingang die Grenzen gezeigt werden.

Es war ein Balanceakt, da beide Staaten das generelle Bündnis mit den USA natürlich nicht in Frage stellen wollten. Insbesondere haben sie auch kein Interesse daran, dass die Vormacht des Westens am Golf völligen Schiffbruch erleidet. Im Gegenteil – im Falle eines Scheiterns im Irak, würde deren Verlust an Einfluss im arabischen Raum auch ihre eigenen vitalen Interessen in der Region gefährden. Die deutsche Regierung hatte daher nach Kriegsbeginn nie einen Hehl daraus gemacht, dass in ihren Augen ein Scheitern der Aggressoren – Völkerrecht hin oder her – eine Katastrophe wäre. Die Folgen wären „zunehmende Instabilität ..., sowie Gefährdung der Energieversorgung Mitteleuropas“, war auch in der Frankfurter Rundschau zu lesen.[77] Die Wochenzeitung Die Zeit wird noch deutlicher: „’Kein Blut für Öl’ kann man leicht sagen, solange andere bereit sind, es zu vergießen; die amerikanische Übermacht am Persischen Golf ... bleibt vitales deutsches Interesse.“[78]

 

Die Bush-Regierung setzt genau auf diese Interessengemeinschaft, wenn sie Unterstützung im Irak auch ohne größere Mitsprache fordert. Diese erhielt sie ja bereits, als nach Kriegsende die einstigen Kriegsgegner mit der Resolution 1483 die Besatzungsmacht zur verwaltenden „Autorität“ des Irak erklärten, deren Herrschaft somit völkerrechtlich anerkannten und damit den völkerrechtswidrigen Krieg im nachhinein legitimierten. [79] Noch ganz unter dem Eindruck des schnellen militärischen Erfolgs der Aggressoren, so scheint es, wollte sich keiner durch erneute Opposition weiter ins Abseits begeben, sondern die Chancen auf eine Beteiligung an der Neuordnung des eroberten Landes wahren.[80] Sie gaben mit der Zustimmung zur Resolution 1483 auch den Anspruch der UNO auf, als Einzige legitimiert zu sein, die Kontrolle über das zerstörte Land zu übernehmen und wieder zurück in die Souveränität zu führen. Sie lieferten es stattdessen ohne zeitliche Begrenzung der Willkür der Invasoren aus. Sie hatten sich damit auf eine schiefe Ebene begeben, auf der sie den US-Interessen nun immer weiter entgegenglitten.

Sie kamen den USA weitere Schritte entgegen, indem sie mit der Resolution 1500 den von der Besatzungsbehörde eingesetzten Übergangsrat aufwerteten. Die arabische Liga ging danach noch einen Schritt weiter. Sie ließ auf massiven Druck der USA den Gesandten des „Regierenden Rats“ als Vertreter des Iraks an einem Außenministertreffen der arabischen Liga teilnehmen, obwohl dieser Rat bisher von keinem der Länder anerkannt wurde. Damit war auch der Weg zur Teilnahme des Irak an der nächsten OPEC-Sitzung geebnet wodurch nun die USA – ihr schärfster Gegner – über einen Sitz in der Organisation verfügt.

 

Washington legte im Herbst eine Reihe von Entwürfen für eine weitere UN-Resolution vor. Obwohl sie ihren zögerlichen Verbündeten sprachlich immer wieder etwas entgegenkamen, blieben die Entwürfe im Kern gleich: Schaffung „einer multinationalen Streitmacht unter einheitlichem Kommando“ – selbstverständlich einem US-amerikanischen – und finanzielle Unterstützung anderer Staaten beim „Wiederaufbau“. Die UNO solle eine „vitale“ Rolle spielen, die aber, bei genauer Betrachtung auf Hilfsdienste in verschiedenen Bereichen beschränkt bliebe. Sie wird aufgefordert ihr Hauptaugenmerk auf die „Förderung des nationalen Dialogs und der Bildung eines Konsens über den politischen Übergangsprozess“ zu legen und die „Interimsregierung“ beim Aufbau repräsentativer Institutionen, sowie bei der Wiedereingliederung in die internationale Gemeinschaft zu „unterstützen“.[81]

Frankreich und Deutschland fordern eine etwas andere Gewichtung der Verantwortlichkeiten. Die UNO und nicht Bremers CPA solle die Kontrolle über den Übergang zu einer souveränen und demokratisch gewählten Regierung im Irak übernehmen, hieß es in einem von Frankreich und Deutschland im Sicherheitsrat vorgelegten Papier. Sie drängen auf eine Regierungsübergabe innerhalb „von Monaten und nicht von Jahren“. Eine Eindämmung des Widerstands sei unmöglich, so der französische Präsident Jacques Chirac gegenüber der New York Times, solange die Besatzungsmacht die unmittelbare Herrschaft über das Land behalten und begründete dies unter anderem auch mit den französischen Erfahrungen in Algerien.[82] 

Kontrolle und Mitsprache der UNO – und somit auch für sich selbst – wird auch bei der Verwaltung aller Gelder gefordert, die für den wirtschaftlichen Aufbau des Iraks bestimmt sind.[83] Das würde insbesondere auch Mitsprache in der strittigsten Frage beinhalten, wer in Zukunft die Kontrolle über die Ölindustrie und die Ölressourcen ausüben wird.

 

Die USA wollen sich auf keinen Zeitplan für die Übergabe der Regierungsgewalt in irakische Hände festlegen und diesen Prozess in alleiniger Regie vollziehen. Zunächst soll unter ihren Fittichen eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Ein Vorgehen, dass auch bei Mitgliedern des Übergangsrat auf scharfen Protest stieß: das zäume das Pferd von hinten auf, eine Verfassung könne nicht unter Besatzung verabschiedet werden.[84] Ein baldiger Rückzug der angelsächsischen Besatzungstruppen wird von Berlin und Paris nicht gewünscht. Da sie auch ihre Forderung, nach einer „wahren internationalen Truppe“ unter UN-Kontrolle, angesichts der unnachgiebigen Haltung Washingtons wieder fallen ließen, wird die irakische Souveränität eher symbolisch bleiben.  Dies wird auch durch den Vorschlag Chiracs deutlich, im Irak ein System ähnlich dem einzuführen, das sie bereits gemeinsam in Afghanistan praktizieren. Auch da bleiben die Invasionstruppen nach einem völkerrechtwidrigen Krieg auf unbestimmte Zeit im Land und halten mit Hilfe von weiteren ausländischen Truppen unter UN-Mandat den vom Westen eingesetzten Präsidenten an der Macht.

Trotz der US-Hörigkeit des „Regierenden Rates“ würden sie aber von einer Übertragung der Regierungsgewalt auf ihn profitieren, da mit dem Ende der direkten Herrschaft das Entscheidungsmonopol der USA durchbrochen würde.

 

Hartnäckiger bleiben Deutschland, Frankreich und auch Russland mit ihren Forderungen nach Kontrolle und Mitsprache der UNO – und somit auch für sich selbst –bei der Verwaltung aller Gelder, die für den wirtschaftlichen Aufbau des Iraks bestimmt sind. Das würde insbesondere auch Mitsprache in der strittigsten Frage beinhalten, wer in Zukunft die Kontrolle über die Ölindustrie und die Ölressourcen ausüben wird. Da es vor der sogenannten Geberkonferenz für Irak, Ende Oktober in Madrid, auch in dieser Hinsicht kein Entgegenkommen gab, signalisierten die drei und auch viele andere Staaten sich mit finanziellen Zuwendungen vorerst zurückzuhalten.

Mit der UN-Resolution 1483, die das Besatzungsregime faktisch anerkennt, wurde auch die Bildung eines Entwicklungsfonds für Irak (DFI) beschlossen, bei dem die Milliarden für den Aufbau des Iraks – auch aus dem Ölexport – zusammenlaufen sollen. Die Verfügungsgewalt wurde in die alleinigen Hände der Besatzungsbehörde gelegt. Ein Internationaler Überwachungsbeirat aus Vertretern der UNO, der Weltbank und des IWF sollte aber als Beratungs- und Aufsichtsbehörde für eine gewisse Transparenz sorgen. Doch auch im Oktober war dieser Überwachungsbeirat noch nicht in Sicht, da seine Zusammenstellung von US-Chefverwalter Bremer hintertrieben wurde. Die Einnahmen und Ausgaben in den Entwicklungsfonds werden stattdessen von einem Gremium überwacht, das die Besatzungsbehörde selbst eingesetzt hat. Diesem gehört nur ein einziger Iraker, „Finanzminister“ Kamal al-Kilani, an, der als US-abhängiger Außenseiter gilt – die Besatzungsbehörde kontrolliert sich also selbst.

Die UNO weiß absolut nichts über das Management des DFI“, so das Iraq Revenue Watch Project (IRW) des Open Society Institute von George Soros. Als Beispiel über die gängige Praxis nennt es den Fall, wo ein 360-Seiten-Konvolut, dass der UNO zur Begutachtung mit 24-Stunden-Frist vorgelegt und dann im Irak als Gesetz eingeführt worden war – mit dem Vermerk: "UN-geprüft". Wie die britische Hilfsorganisation Christian Aid Ende Oktober meldete, hatte die Besatzungsbehörde bis dato nur über die Verwendung von einer der fünf Milliarden Dollar Rechenschaft abgelegt, die im wesentlichen aus dem früheren Öl-für-Nahrungsmittel-Programm und beschlagnahmten irakischen Guthaben stammten. Vier Milliarden Dollar rein irakischen Geldes sind so Christian Aid also offenbar in dunklen Finanzkanälen verschwunden. Transferiert auf von den USA kontrollierte „undurchsichtigen Bankkonten“ der Zivilverwaltung [84]

 

Irak – „Front im Kampf gegen Terrorismus“

Die Bush-Regierung nutzte konsequent die Anschläge auf die UN-Zentrale in Bagdad und die Imam-Ali-Moschee in Nadjaf, um argumentativ die Gefahr einer Ausbreitung terroristischer Gewalt in den Vordergrund zu rücken.[85] Obwohl auch diese Gewalt offensichtlich eine Folge der Besatzung ist, wird sie in der Mitte Oktober verabschiedeten UN-Resolution zur Rechtfertigung ihrer Fortsetzung verwandt. Die Resolution 1511 nimmt gleich zu Beginn auf diese Attentate Bezug und gedenkt ausführlich der ausländischen und irakischen Opfer, die dabei ums Leben kamen – angesichts Zehntausender Iraker, die von US-amerikanische Bomben getötet wurden, ein kaum zu überbietender Zynismus. Mit der „Bedrohung von Frieden und Sicherheit durch terroristische Akte“ legitimiert die Resolution schließlich die Umwandlung des angloamerikanischen Besatzungsregimes in einen multinationalen Kampfeinsatz nach Kapitel VII der UN-Charta.

 

Die US-Regierung versucht auch in der Öffentlichkeit die hässliche Realität der illegalen Besatzung durch das Bild eines Landes zu verdrängen, das im blindwütigen Terror zu versinken droht. Indem Angriffe auf die Besatzungstruppen und Sabotage mit den Terroranschlägen auf Zivilisten vermengt und zudem in Verbindung mit Anschlägen in anderen Ländern gebracht wird, versuchen sie ihre Besatzungspolitik als Verhinderung der „Ausweitung des Terrors“ und so als gemeinsames Anliegen der „internationalen Staatengemeinschaft“ darzustellen.

Nicht ohne Erfolg, wie nicht nur Resolution 1511 zeigt: die Besatzung an sich, Ergebnis eines unstrittig völkerrechtswidrigen Krieges, wird von europäischen Politikern und Medien kaum noch problematisiert. Während aus Sicht der meisten Iraker, die gefährlichsten ausländischen Terroristen in britisch und amerikanischen Uniformen stecken, besteht in Europa breiter Konsens, dass eine Unterstützung der angelsächsischen Truppen bei der „Stabilisierung“ des Iraks ein gemeinsames internationales Anliegen ist.

Just als die CIA zugeben musste, keinerlei Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden zu haben, bekräftigen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Präsident Jacques Chirac in direkten Gesprächen mit dem US-Präsidenten, die „Meinungsverschiedenheiten“ über den Kriegskurs der USA hätten sich erledigt. Man müsse nun nach vorne schauen, so Schröder. In einem Artikel für die New York Times, der den Boden für einen wohlwollenden Empfang bei George W. Bush bereiten sollte, bot er an, „die Last im Irak zu teilen.“ In Aussicht gestellt wurde neben finanziellen Hilfen, vor allem die Ausbildung neuer, US-loyaler Polizisten und Soldaten.

Die Hoheit der USA über den Irak wird nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Selbstverständlich sollen auch aus deutscher und französischer Sicht, die USA – als „größter Truppensteller“ das militärische Oberkommando über die geplanten UN-Truppen im Irak erhalten. Die Forderung nach einer größeren Autorität für die UNO wird zwar aufrechterhalten, einen Streit deswegen sollte es aber nicht mehr geben.

Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete schließlich am 16.Oktober einstimmig den vom US-Außenminister ein letztes Mal sprachlich überarbeiteten Resolutionsentwurf, obwohl letzlich keine der maßgeblichen Forderungen berücksichtigt wurde.Frankreich, Deutschland und Russland bekräftigten in einem separaten Statement ihre Unzufriedenheit mit der Rolle, die den Vereinten Nationen eingeräumt wurde und schlossen die Entsendung eigener Truppen aus.

[weiter ...]



[67] US troops may stay in Iraq indefinitely, Financial Times: 21.08. 2003 und Spy Agencies Warned of Iraq Resistance, Washington Post 9.9.2003

[68] "Von den insgesamt 33 Kampfeinheiten der US-Armee wurden bereits 16 in den Irak verlegt, bis auf 3 sind auch alle übrigen [...] weltweit im Einsatz", Alain Gresh, Falsche Vorstellung a.a.O.

[69] In ihren Kommentaren fordern große US-Zeitungen wie die Washington Post, die New York Times und die Los Angeles Times um eine „Lastenteilung“ zu erhalten, auch „Entscheidungsbefugnisse“ und mögliche „Belohnungen“ mit anderen Staaten zu teilen, sowie mehr „politische und wirtschaftliche Autorität der UNO.“ Siehe Peter Rudolf, Amerikanische Irakpolitik - wie weiter, Stiftung Wissenschaft u. Politik, SWP-aktuell 36, Sept  2003

[70] ICG, "Governing Iraq", a.a.O.

[71] US troops may stay in Iraq indefinitely, a.a.O.

[72] ICG, "Governing Iraq", Seite iii

[73] Rumsfeld Says More G.I.'s Would Not Help U.S. in Iraq NYT, 11.9.2003

[74] ICG, "Governing Iraq", S. 29

[75] Siehe die Nationale Sicherheitsstrategie der USA vom September 2003

[76] Siehe auch Peter Rudolf a.a.O.

[77] Europas Verantwortung, FR 12.09.2003

[78] Bundeskanzler - Ratlos nach New York, Die Zeit, 39/2003

[79] Werner Ruf, UN-SR-Res. 1483 - Die Unterwerfung, INAMO 34/Sommer 2003

[80] „Als Bagdad gefallen war, konnte man in Frankreich die Meinung hören, es sei nun Zeit, sich den ‚Siegern’ anzuschließen. In diesem Sinne stimmte Paris am 22. Mai 2003 im Sicherheitsrat für die Resolution 1483“, Alain Gresh: „Falsche Vorstellung“, a.a.O.

[81] Wortlaut gemäß BBC vom 4.9.2003, http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/middle_east/3081052.stm,
Berlin und Paris legen eigene Irak-Resolution vor, afp 10.9.2003

[82] Interview der New York Times mit Jacques Chirac vom 22.9.2003

[83] U.S. Pushes Iraq Resolution at Security Council, Washington Post, 2.10.2003

[84] Keeping Secrets: America and Iraq’s Public Finances, Iraq Revenue Watch Project, Open Society InstituteOctober 2003, http://www.iraqrevenuewatch.org/. Siehe auch Frankfurter Rundschau v. 23.10.2003

[85] Siehe hierzu auch J. Guilliard „Herrschaft durch Destabilisierung“, Marxistische Blätter, 05/2003



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