Robert Fisk,
Eins, zwei, drei, wofür kämpfen sie

über den bewaffneten Widerstand im Irak und die Truppenmoral der US-Streitkräfte

Independent, 26.10.2003
Orginaltitel: "One, Two, Three, What Are They Fighting For?" *)
http://news.independent.co.uk/world/fisk/story.jsp?story=456643

Ich war in der Polizeiwache in der Stadt Fallujah als ich das Ausmaß der Schizophrenie erkannte. Hauptmann Christopher Cirino vom 82. Airborne versuchte mir die Art der in dieser sunnitischen, moslemischen Stadt im Irak so regelmäßig gegen amerikanische Streitkräfte durchgeführten Angriffe erklären. Seine Männer waren in einem früheren Wochenendhaus des Präsidenten ein Stück die Straße hinunter einquartiert - "Dreamland" nennen es die Amerikaner - aber das war nicht das ganze Ausmaß der Verwirrung seiner Soldaten. "Die Männer, von denen wir angegriffen werden", sagte er, "sind in Syrien ausgebildete Terroristen und ortsansässige Freiheitskämpfer." Wie bitte? "Freiheitskämpfer." Aber das ist es, wie Hauptmann Cirino sie genannt hat - und zurecht.

Hier ist der Grund. Alle amerikanischen Soldaten sollen glauben - tatsächlich müssen sie glauben, zusammen mit ihrem Präsidenten und seinem Verteidigungsminister Donald Rumsfeld - daß Osama bin Ladens "Al-Qaida"-Guerillas, über die irakischen Grenzen nach Syrien, Iran, Saudi-Arabien (man beachte, daß die engen Verbündeten und Nachbarn des Iraks, Kuwait und die Türkei, bei der Aufzählung immer ausgelassen werden) in das Land strömen und die Streitkräfte der Vereinigten Staaten als Teil des "Krieges gegen den Terror" angreifen. Soldaten der Special Forces wird jetzt von ihren Offizieren mitgeteilt, daß der "Krieg gegen den Terror" jetzt von Amerika in den Irak verlagert wurde, als wenn auf wundersame Weise der 11. September 2001 zu Irak 2003 wurde. Man beachte außerdem, wie die Amerikaner die Iraker immer aus der Verantwortlichkeit heraushalten - sofern sie nicht als "Überbleibsel der Baath-Partei", "Ewiggestrige" oder "Unverbesserliche" vom US-Prokonsul Paul Bremer bezeichnet werden können.

Hauptmann Cirinos Problem ist natürlich, daß er einen Teil der Wahrheit kennt. Einfache Iraker - viele von ihnen langjährige Feinde von Saddam Hussein - greifen die amerikanische Besatzungsarmee allein im Gebiet um Baghdad 35 mal am Tag an. Und Hauptmann Cirino arbeitet in Fallujahs örtlicher Polizeiwache, wo die von Amerika neu eingestellten Polizisten die Brüder und Onkel und - zweifellos - die Väter einiger derer sind, die jetzt den Guerillakrieg gegen amerikanische Soldaten in Fallujah führen. Einige von ihnen, vermute ich, sind tatsächlich selbst die "Terroristen." Wenn er also die bösen Jungs als "Terroristen" bezeichnen würde, wären die örtlichen Polizisten - seine erste Verteidigungslinie - tatsächlich sehr wütend.

Kein Wunder, daß die Moral niedrig ist. Kein Wunder, daß die amerikanischen Soldaten, die ich auf den Straßen treffe, kein Blatt vor den Mund nehmen wenn sie über ihre eigene Regierung sprechen. US-Soldaten haben den Befehl erhalten, über ihren Präsidenten und den Verteidigungsminister vor Irakern und Reportern (die in den Augen der Besatzer fast den gleichen Status haben) nicht schlecht zu reden. Aber als ich einer Gruppe von US-Militärpolizisten bei Abu Ghurayb gegenüber annahm, daß sie bei der nächsten Wahl die Republikaner wählen würden, brachen sie in Gelächter aus. "Wir sollten nicht hier sein und wir hätten niemals hierher geschickt werden sollen", sagte mir einer von ihnen mir erstaunlicher Offenheit. "Und vielleicht können sie mir sagen: Warum wurden wir hierher geschickt?"

Kein Wunder also, daß "Stars and Stripes" die Tageszeitung des amerikanischen Militärs, in diesem Monat berichtete, daß ein Drittel der Soldaten im Irak unter niedriger Moral litten. Und ist es angesichts dessen ein Wunder, daß US-Soldaten im Irak Unschuldige niederschießen, Gefangene treten und brutal behandeln, Wohnungen verwüsten und - Augenzeugenberichte gibt es von Hunderten von Irakern - Geld aus Häusern, die sie durchsuchen, stehlen? Nein, das ist nicht Vietnam - wo die Amerikaner manchmal in einem Monat 3.000 Männer verloren - noch verwandelt sich die US-Armee zu Gesindel. Noch nicht. Und sie sind Lichtjahre entfernt von den Schlächtereien von Saddams Handlangern. Aber Menschenrechtsbeobachter, zivile Besatzungsbeamte und Journalisten - nicht zu vergessen die Iraker selbst - sind zunehmend über das Verhalten der amerikanischen Militärbesatzer entsetzt.

Iraker, die US-Militärkontrollpunkte übersehen, die angegriffene Konvois überholen - oder die nur am Ort einer amerikanischen Razzia vorbeikommen - werden hemmungslos niedergeschossen. Offizielle "Ermittlungen" der USA dieser Tötungen führen regelmäßig zu Stillschweigen oder der Behauptung, daß die Soldaten "ihre Gefechtsvorschriften befolgt haben" - Vorschriften, die die Amerikaner der Öffentlichkeit nicht zugänglich machen.

Die Verwesung kommt von der Spitze. Selbst während der britisch-amerikanischen Invasion in den Irak weigerten sich die US-Streitkräfte, die Verantwortung für die von ihnen getöteten Unschuldigen zu übernehmen. "Wir zählen nicht die Todesopfer" verkündete General Tommy Franks. Also gab es keine Entschuldigung für die 16 Zivilisten, die in Masur getötet wurden als die "Alliierten" - man beachte, wie wir Briten in diesem irreführenden Titel gefangen werden - ein Wohnviertel in der vergeblichen Hoffnung, Saddam zu töten, bombardierten. Als US-Special Forces ein Haus in genau der gleichen Gegend vier Monate später stürmten - auf der Jagd nach genau dem gleichen irakischen Führer - töteten sie sechs Zivilisten, darunter einen 14-jährigen Jungen und eine Frau mittleren Alters kündigten sie vier Tage später nur an, daß sie "Ermittlungen" durchführen würden. Keine Untersuchung, wohlgemerkt, nichts, was darauf hindeuten würde, daß irgendetwas daran falsch war, sechs irakische Zivilisten niederzuschießen; und im späteren Verlauf wurden die "Ermittlungen" vergessen - wie dies zweifellos auch gedacht war - und nichts wurde mehr davon gehört.

Ebenfalls während der Invasion warfen die Amerikaner Hunderte von Streubomben über Dörfern außerhalb der Stadt Hillah ab. Sie hinterließen eine Schlachtbank zerfetzter Körper. Aufnahmen von während des Angriffs zerrissenen Babys wurden nicht einmal von der Reuters-Crew in Baghdad übertragen. Das Pentagon sagte dann, es gäbe "keine Hinweise", daß Streubomben über Hillah abgeworfen worden seien - selbst obwohl SkyTV eine nicht explodierte gefunden und sie nach Baghdad gebracht hatte.

Das erste Mal bemerkte ich die Abwesenheit von Gewissensbissen - oder vielmehr von Verantwortung - in einem Armenviertel in Baghdad namens Hayy al-Gailani. Zwei Männer waren in einen neuen amerikanischen Kontrollpunkt - eine Rolle Stacheldraht, die an vor Sonnenaufgang an einem Morgen im Juli über die Straße gespannt worden war - hereingeraten und US-Soldaten hatten das Feuer auf das Auto eröffnet. Tatsächlich feuerten sie so viele Kugeln ab, daß das Fahrzeug in Flammen aufging. Und während die toten oder sterbenden Männer im Innern verbrannten, bestiegen die Amerikaner, die den Kontrollpunkt aufgestellt hatten einfach ihre gepanzerten Fahrzeuge und verließen den Ort. Sie dachten nicht einmal daran, die Leichenhalle des Krankenhauses zu besuchen, um die Identität derjenigen zu erfahren, die sie getötet hatten - ein offensichtlicher Schritt, wenn sie glaubten, sie hätten "Terroristen" getötet - und ihre Angehörigen zu informieren. Vorfälle wie dieser wiederholen sich täglich überall im Irak.

Aus diesem Grund protestieren Human Rights Watch und Amnesty International und andere humanitäre Organisationen immer energischer wegen des Unvermögens der US-Armee auch nur die Anzahl der toten Iraker zu zählen, ganz abgesehen von ihrer eigenen Rolle bei der Tötung von Zivilisten. "Es ist eine Tragödie, daß US-Soldaten so viele Zivilisten in Baghdad getötet haben", sagte Joe Stark von Human Rights Watch. "Aber es ist wirklich unglaublich, daß das US-Militär nicht einmal diese Toten zählt." Human Rights Watch hat 94 irakische Zivilisten gezählt, die in der irakischen Hauptstadt von Amerikanern getötet worden sind. Die Organisation hat außerdem die amerikanischen Streitkräfte wegen der Erniedrigung von Gefangenen, nicht zuletzt wegen ihrer Angewohnheit, ihre Füße auf die Köpfe von Gefangenen zu stellen, kritisiert. Einige amerikanische Soldaten werden jetzt in Jordanien - von Jordaniern - ausgebildet, "Respekt" gegenüber irakischen Zivilisten und der Kultur des Islam zu zeigen. Zeit wird es.

Am Boden im Irak aber haben die Amerikaner die Lizenz zum Töten. Nicht ein einziger Soldat ist dafür bestraft worden, daß er Zivilisten erschossen hat - selbst wenn das Opfer ein Iraker war, der für die Besatzer gearbeitet hat. Nichts wurde beispielsweise unternommen hinsichtlich des Soldaten, der im Nordirak einen Schuß durch das Fenster des Autos eines italienischen Diplomaten abgegeben hat, der dessen Übersetzer getötet hat. Ebensowenig gegen die Soldaten des 82. Airborne, die 14 sunnitische Demonstranten im April in Fallujah niedergeschossen haben. (Hauptmann Cirino war nicht darin verwickelt.) Auch nicht gegen die Soldaten, die 11 weitere Demonstranten in Mosul erschossen haben. Manchmal steigen die Beweise für niedrige Moral über eine lange Zeit an. In einer irakischen Stadt hat die "Übergangsverwaltung der Koalition" - so nennen sich die Besatzungsbehörden selbst - örtliche Geldwechsler angewiesen, den Besatzungssoldaten keine US-Dollars für irakische Dinars zu geben: zu viele irakische Dinars waren von Soldaten während Razzien gestohlen worden. Wiederholt wurde mir in Baghdad, Tikrit, Mosul und Fallujah von Irakern gesagt, daß sie von amerikanischen Soldaten bei Razzien und an Kontrollpunkten bestohlen worden seien. Sollte es keine gigantische Verschwörung von landesweiten Ausmaßen der Iraker geben, müssen einige dieser Berichte der Wahrheit entsprechen.

Dann gab es den Fall eines bengalischen Tigers. Eine Gruppe von US-Soldaten ging eines abends in den Zoo von Baghdad für eine kleine Party mit Sandwiches und Bier. Während der Party entschloß sich einer der Soldaten, den Tiger zu streicheln, der - nicht umsonst ein bengalischer Tiger - seine Zähne in dem Soldaten vergrub. Die Amerikaner erschossen daraufhin den Tiger. Die Amerikaner versprachen "Ermittlungen" - von denen seit dem nichts mehr zu hören ist. Ironischerweise ist der einzige Fall, in dem US-Soldaten bestraft wurden, ein Vorfall, bei dem eine amerikanische Hubschraubermannschaft eine schwarze religiöse Fahne von einem Kommunikationsmast in Sadr City in Baghdad entfernte. Die darauf folgende Gewalt kostete das Leben eines irakischen Zivilisten.

Die Selbstmorde unter US-Soldaten im Irak sind in den letzten Monaten angestiegen - bis zum dreifachen der üblichen Rate unter amerikanischen Soldaten. Mindestens 23 Soldaten haben sich seit der britisch-amerikanischen Invasion das Leben genommen und weitere haben sich bei dem Versuch verletzt. Wie üblich, hat die US-Armee diese Statistik nur nach häufigem Nachfragen enthüllt. Die täglichen Angriffe außerhalb Baghdads - bis zu 50 in einer Nacht - werden, wie die toten irakischen Zivilisten, nicht genannt. Als ich letzten Monat im Dunkeln von Fallujah zurück nach Baghdad fuhr, sah ich Mörserexplosionen und Leuchtspurmunitionsfeuer bei 13 amerikanischen Basen - nicht ein Wort davon wurde später von den Besatzern enthüllt. Am Flughafen von Baghdad fielen vergangenen Monat fünf Mörsergranaten in die Nähe der Startbahn als Passagiere an Bord eines jordanischen Flugzeugs Richtung Amman gingen. Ich habe diesen Angriff mit meinen eigenen Augen gesehen. Am gleichen Nachmittag behauptete General Ricardo Sanchez, der höchste US-Offizier im Irak, nicht über den Angriff zu wissen, von dem er - falls seine untergebenen Offiziere nicht schlampig sind - sehr wohl gewußt haben muß.

Aber können wir etwas anderes von einer Armee erwarten, die ihre Soldaten absichtlich dazu bringt, "Briefe" an die Zeitungen ihre Heimatorte über die Fortschritte der USA im täglichen irakischen Leben zu schreiben.

"Die Lebensqualität und Sicherheit für die Bürger ist größtenteils wiederhergestellt und das ist zum großen teil unser Verdienst", prahlte Unteroffizier Christopher Shelton des 503. Airborne Infantry Regiments in einem Brieg aus Kirkuk an die Snohomish Country Tribune. "Die Mehrheit der Stadt hat unsere Anwesenheit mit offenen Armen empfangen." Nur, daß sie das nicht hat. Und Unteroffizier Shelton den Brief nicht geschrieben hat. Ebensowenig wie Unteroffizier Shawn Grueser aus West Virginia. Oder der Gefreite Nick Deaconson. Oder acht andere Soldaten, die angeblich gleichlautende Briefe an ihre Heimatzeitungen geschrieben hatten. Die "Briefe" waren unter den Soldaten verteilt worden, die aufgefordert wurden, sie zu unterschreiben, wenn sie mit dem Inhalt einverstanden waren.

Aber ist das nicht vielleicht Teil der Phantasiewelt, die von den rechten Ideologen in Washington inspiriert wurde, die diesen Krieg wollten - obwohl die meisten von ihnen nie ihrem Land in Uniform gedient hatten. Sie erträumten die "Massenvernichtungswaffen" und die Beweihräucherung der amerikanischen Soldaten, die das irakische Volk "befreien" würden. Unfähig, die Träume mit Tatsachen zu belegen, geben sie jetzt gerade mal zu, daß die Soldaten, die sie in das größte Rattennest im Mittleren Osten geschickt haben "noch eine Menge zu tun haben", daß sie - daß wurde weder vor noch während der Invasion enthüllt - "an vorderster Front im Krieg gegen den Terror kämpfen."

Welchen Einfluß, könnte man sich fragen, hatten die christlichen Fundamentalisten auf die amerikanische Armee im Irak? Denn selbst wenn wir Reverend Franklin Graham, der den Islam als "eine sehr böse und schlimme Religion" beschrieben hat bevor er loszog um einen Vortrag vor Pentagonbeamten zu halten, ignorieren, was soll man von dem Beamten halten, der für die Suche nach Osama bin Laden verantwortlich ist, Generalleutnant William "Jerry" Boykin, der einem Publikum in Oregon sagte, daß Islamisten die USA hassen, "weil wir eine christliche Nation sind, weil unsere Grundlage und unsere Wurzeln jüdisch-christlich sind und der Feind ein Typ namens Satan ist." Kürzlich zum stellvertretenden Unterstaatssekretär der Verteidigung für Geheimdienst befördert, fuhr Boykin fort, über den Krieg gegen Mohammad Farrah Aidid in Somalia - an dem er teilgenommen hatte - zu sagen, daß "ich wußte, daß mein Gott größer als seiner ist - ich wußte, daß mein Gott ein wirklich Gott ist und seiner nur ein Götze."

Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagte über diese außergewöhnlichen Anmerkungen, daß "es nicht aussieht, als wären irgendwelche Regeln gebrochen worden." Man sagt uns jetzt, daß "Ermittlungen" wegen Boykins Bemerkungen vorgenommen werden - zweifellos ebenso tiefgreifende "Ermittlungen" wie die hinsichtlich der getöteten Zivilisten in Baghdad.

Durch diese Art der Sinnlosigkeit entwöhnt, ist es da eine Überraschung, daß amerikanische Soldaten im Irak weder ihren Krieg noch die Menschen in dem von ihnen besetzten Land verstehen? Terroristen oder Freiheitskämpfer? Was ist der Unterschied?

* "One, Two, Three, What Are They Fighting For?" lautet die erste Zeile eines populären Protestsongs gegen den Vietnamkrieg "Feel-Like-I'm-Fixin'-To-Die-Rag" von Country Joe & the Fish. Anm.d.Ü.

Quelle: http://www.freace.de/artikel/okt2003/fisk261003.html