Freitag, 10.05.2002

Peter Kreysler

Reisende sind niemals harmlos

DIALOG DER KULTUREN*Roberto Ciulli wurde für seine internationale Theaterarbeit ausgezeichnet. Seine jüngste Zusammenarbeit mit iranischen Schauspielerinnen ist nun auch bei uns zu sehen

Am vergangenen Sonntag erhielt das Theater an der Ruhr im Rahmen eines kleinen Festaktes in Mülheim an der Ruhr den Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) zum diesjährigen Welttheatertag. Der Zeitpunkt der Preisverleihung war gut gewählt: wenige Tage nach der Gastspielreise des Theaters in den Irak und unmittelbar vor der Deutschlandpremiere der deutsch-iranischen Koproduktion von Lorcas Bernarda Albas Haus, das Roberto Ciulli - als erster westlicher Theaterregisseur seit 23 Jahren in Teheran - im Februar diesen Jahres mit iranischen Schauspielerinnen inszeniert hat. Die Koproduktion des Theaters an der Ruhr mit dem Dramatic Arts Center in Teheran war ein vorläufiger Höhepunkt seines nun schon langjährigen Kulturaustauschs mit der Islamischen Republik Iran. Das kürzliche Gastspiel des Theaters in Bagdad mit den Inszenierungen Kaspar, Dreigroschenoper, Antigone und Der kleine Prinz ist konzeptioneller Teil des Seidenstraßenprojektes des Theaters und in Zeiten wie diesen auch ein entschiedenes kulturpolitisches Signal für die Öffentlichkeit hier und in der islamischen Welt. Die beiden aktuellen Ereignisse sind Teil einer nun seit über zwanzig Jahren praktizierten internationalen Theaterarbeit.

"Die Achsenmächte des Bösen sind fast vollständig versammelt", raunte zynisch ein zur Preisverleihung anwesender Journalist. Auch in anderen Medien wurden die internationalen Aktivitäten des Theaters in jüngster Zeit eher oberflächlich beobachtet; im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen bei Reisen nach Bagdad oder Teheran immer wieder die Fragen nach der Zensur, der Unterdrückung der Frauen durch den Islam, der Dialogfähigkeit der Politik in den islamischen Ländern. Seit dem 11. September ist der Dialog der Kulturen, insbesondere mit den islamischen Ländern, "en vogue", er wird in den westlichen Medien ununterbrochen angesprochen, jedoch selten ausgeführt. "Wir arbeiten bei jeder unserer Reisen auch an den Grenzen unserer Gesprächspartner", charakterisiert dagegen Ciulli seine Bemühungen. Viele vermeintlich unumstößliche Grenzen wurden vom Theaterensemble aus Mülheim in zäher Kleinarbeit verschoben; mit Kontinuität, mit großem Zeitaufwand, mit künstlerischer Detailarbeit, mit politischen Visionen.
Manche dieser Grenzlinien - so langjährige Beobachter - verlaufen auch quer durch die deutsche Republik: Wenn man an die künstlerischen Anfänge des Theaters mit Gordana Kosanovic denkt oder an die in den achtziger Jahren von Ciulli angeregte Strukturdebatte um die deutschen Stadttheater, die bis heute von interessierter Seite vermieden wird. Während in Deutschland das Publikum - oft von professionellen Kritikern angeleitet - Theater als Ort der Befriedigung von Erwartungen begreift, erweisen sich Ciullis Inszenierungen in den Ländern, die wir heute so selbstverständlich als unterentwickelt klassifizieren (selten ohne ihnen noch eine großartige, aber vergangene, Kulturgeschichte zu attestieren), beharrlich als einmalige Orte authentischen Erlebens, als Momente, in denen neu begriffen wird. Wie zum Beispiel in Santiago de Chile, wo vor zehn Jahren das Theater mit Ciullis Inszenierung von Sartres Tote ohne Begräbnis in die Diskussion um Folterungen und damit in den zögerlichen Prozess der kollektiven Erinnerung an die Zeit unter General Pinochets Militärdiktatur eingriff und sich das Publikum mit seinen heftigen Gefühlsreaktionen dem Dialog stellte.

"Als Reisender ist man niemals harmlos; auch nicht im eigenen Land", zitierte Ciulli kurz vor seiner ersten Reise in den Iran 1998 ein altes Zigeunersprichwort. Vier Inszenierungen des Theaters waren nach Teheran eingeladen. Es hatte mühevoller, zweijähriger Verhandlungen bedurft, ehe es dem Theater gelang, mit dem iranischen Kultusministerium das erste Gastspiel eines westlichen Theaters seit der islamischen Revolution vor damals 20 Jahren auszuhandeln. Das Theater musste seinen Vertrag direkt mit dem Kultusministerium im Iran abschließen, da ein Kulturabkommen zwischen Deutschland und der Islamischen Republik Iran nicht mehr bestand. Der Iran befand sich damals im inneren Aufbruch. Zur Überraschung vieler westlicher Beobachter setzte sich dann bei den Parlamentswahlen der Außenseiterkandidat der Reformer Khatami mit überwältigender Mehrheit durch. Unabhängige Zeitungen wurden gegründet, Journalisten wagten Kritik auch an der theokratischen Verfassung des Landes, Film und Literatur blühten auf. Präsident Khatami wollte auch mit Hilfe eines Dialogs der Kulturen das Land aus der internationalen Isolation führen. Das Theater an der Ruhr bot sich als Partner an.

In den Wochen vor dem Gastspiel des Mülheimer Ensembles brachen die Konflikte zwischen den Reformern und den Konservativen offen aus. Die ersten Blüten eines politischen Frühlings drohten im Kälteinbruch der fundamentalistischen Kräfte zu erfrieren. Oppositionelle Schriftsteller wurden von Meuchelmödern umgebracht. Auch im Ensemble des Theater an der Ruhr wurde diskutiert, ob man deshalb nicht die Regierung der islamischen Republik boykottieren sollte. Roberto Ciulli entschied sich trotzdem zu reisen und die Solidarität mit den Intellektuellen und Künstlern öffentlich zu machen.

"Am Abend, als das Theater an der Ruhr auftrat, spielten sich tumultartige Szenen ab", so beschreibt ein Augenzeuge, "Hunderte zumeist junger Studenten versuchten regelrecht den bereits überfüllten Zuschauerraum zu stürmen. Es lag förmlich in der Luft, dass dieser Theaterabend für die Geschichte der iranischen Reformbewegung wichtig sein sollte und alle wollten miterleben, wie zum erstenmal seit der islamischen Revolution, nach all den Jahren der internationalen Isolation, ausgerechnet zu Zeiten neuer Konflikte, Ciullis Inszenierung auf die Bühne kam. Jeder wollte mit eigenen Augen sehen, ob das Theater an der Ruhr zu den aktuellen Morden an den Schriftstellern Stellung nahm. Als Ciulli vor der Aufführung auf die Bühne kam, sprach er aus, was vielen im überfüllten Theatersaal auf der Seele lag. Er verurteilte eindeutig die Morde, er sprach vom Iran, als dem Land Sadegh Hedayats, einem der berühmtesten zeitgenössischen Schriftsteller, der mit seinen kritischen Schriften den mächtigen Mullahs ein Dorn im Auge war. Er sprach von der Notwendigkeit der Künste, dem Austausch der Künstler und erntete frenetischen Applaus vom überwiegend jugendlichen Publikum". Seitdem besucht Ciulli mit seinem Ensemble den Iran regelmäßig, wie auch iranische Gruppen mit Gastspielen nach Deutschland kommen. Seine iranische Inszenierung von Bernarda Alba Haus sieht Ciulli jetzt als einen Höhepunkt der Zusammenarbeit und gleichzeitig ein Stück kostbarer Normalität. Dass er trotz seines Engagements für Oppositionelle und Intellektuelle den Austausch mit dem Iran weiter fortsetzen konnte, kann hier in Deutschland nur jene überraschen, die die Vielfältigkeit der Länder und Kulturen jenseits der politischen Schlagzeilen und kommerzialisierten Nachrichtenbilder vergessen.

In seiner Antwort auf die Laudatio zur Preisverleihung erinnerte Ciulli auch an die Erfurter Katastrophe, aber ebenso an die Finanzdebatten um die Theater dieser Region und die bekannten Konsequenzen der Kulturpolitik. Gewalt zu verbieten, sei kein Ersatz dafür, sie zu bewerten gelernt zu haben. Die Politik, zuvorderst die westliche, hat in den letzten zehn Jahren in atemberaubendem Ausmaß, Gewalt als Mittel der Politik gegenüber dem staunenden Publikum zu legitimieren gelernt. Die vermeintlichen Gralshüter deutscher Kultur, konservative Politiker, waren bei der Privatisierung und Kommerzialisierung der Medien schon immer Vorreiter. Wie wollen die westlichen Gesellschaften ohne selbstkritische Auseinandersetzung über Zustand und Vision ihrer Demokratien noch jemanden beeindrucken können, zumindest jenseits wirtschaftlicher Dominanz? In den Inszenierungen des Theaters an der Ruhr, in Ciullis konsequentem Austausch mit fremden Kulturen, sind solche Fragen offengelegt.