Der kranke Herrscher und das frische Blut

Embargo, Tabu und Theater - die irakische Hauptstadt Bagdad als Bühne für internationalen Kulturaustausch und die Inszenierungen des Diktators

Rüdiger Schaper
Potsdamer Neueste Nachrichten, 18.04.2002

Nächtliche Fahrt durch Bagdad. Vorbei am "Monument des unbekannten Soldaten", das grün-blau leuchtet wie ein soeben gelandetes Ufo. Im Taxi, einem älteren Chevrolet, läuft ein englischsprachiger Pop-Sender. Talk-Radio: Jugendliche rufen an und plappern, haben Musikwünsche, die sind auch hier erfüllbar. "Philipp Holzmann", erklärt der Taxifahrer stolz, als wir eine Tigris-Brücke überqueren. Der Mann hat in den sechziger Jahren für deutsche Baukonzerne gearbeitet. "Holzmann bankrupt, finished!" Aber der Fahrer versteht nicht, was wir ihm da von großer Pleite erzählen wollen. Die deutschen Firmennamen, einst mächtige Arbeitgeber, haben hier einen edlen, unzerstörbaren Klang. Und es kann passieren, wie überall auf der Welt, dass man als Deutscher für Hitler Komplimente bekommt; der habe es verstanden, mit den Juden umzugehen. Die Iraker haben einen Vermerk in unsere Pässe gestempelt, wonach das Visum ungültig sei, wenn man einen israelischen Stempel in den Papieren hat.

Vorhin auf einem Empfang im Bagdader Reiterclub waren wir die Ahnungslosen, als ein breit schwäbelnder Geschäftsmann uns darüber aufgeklärt hat, dass er hier einen deutsch-amerikanischen Autokonzern vertritt: Die irakische Oberschicht habe auch ein Recht, S-Klasse zu fahren. "Sie sind vom Ministerium aus Berlin?", fragt der Autoverkäufer. "Nein, von der Presse." Ach so, Ende des Gesprächs.
 

Embargo ist ein geheimnisvolle Geschichte. Wie Scheherazades Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Den Schulkindern, so hören wir, fehlen Bleistifte, weil diese Grafit enthalten, der auch für Waffen gebraucht wird. Die Kindersterblichkeit im Irak, das spricht sich allmählich auch im Westen herum, ist horrend. Es fehlen Medikamente, medizinische Apparate. Wir treffen einen Münchner Architekten. Er hat zu Hause alles aufgegeben und arbeitet für eine private Hilfsorganisation namens APN, "Architects For People In Need". Versorgung mit sauberem Trinkwasser sei eines der größten Probleme des Landes. Die deutschen Ingenieure haben für ihr Projekt EU-Mittel aufgetrieben. An großer Öffentlichkeit und Medienrummel liegt ihnen nichts.
 

Der Herr vom Ministerium hatte uns gewarnt: "Gut, wenn Sie unbedingt wollen, dann werden wir das sofort arrangieren." Wir wollen - eine stinknormale irakische Theateraufführung sehen, egal was. Das Stück heißt "Heirat nach Gesetz", eine Volkstheater-Komödie. Der Intendant erwartet uns mit einer kleinen Delegation am Eingang. Er spricht deutsch, hat in den siebziger Jahren an der Berliner Humboldt-Universität studiert, sein Sohn ist in Pankow geboren. Er erkundigt sich nach Ernst Schumacher, dem inzwischen 80-jährigen Theaterkritiker, der in der DDR sein Doktorvater war. Wir werden durch das Theater geführt. Auf der Seitenbühne spielen zwei Schauspieler Federball. Zehn Minuten bis Vorstellungsbeginn, sie haben sich noch nicht umgezogen. Der Intendant stellt uns in der Garderobe den Schauspielerinnen vor. Es geht in dem Stück um einen alten Mann, der beschließt, sich eine junge, fruchtbare Zweitfrau zuzulegen, nach islamischem Recht ist das möglich. Denn sein Eheweib ist für erotische Abenteuer nicht mehr zu haben, die Kinder sind längst erwachsen, wohnen mit den Alten unter einem Dach. Wie in Brandenburg auf dem Dorf.

Der Zuschauerraum ist fast leer. Dreißig, vielleicht vierzig Besucher, Männer zumeist, verlieren sich im etwa 400 Plätze fassenden Al-Mansur-Theater im modernen Zentrum der irakischen Hauptstadt. Auf die Frage, ob die Vorstellungen sonst besser besucht seien, antwortet der Intendant: "Die Leute bleiben wegen der Ereignisse in Israel zu Hause, vor dem Fernseher." Zu dem Komplex im Zawra-Park, einem Parade- und Aufmarschgelände, das von zwei Toren mit gigantischen, gekreuzten Krummschwertern begrenzt wird, gehört auch ein Kino. Zur Zeit laufen hier keine Filme.

Der irakische Heirats-Schwank läuft nach dem Muster amerikanischer Sitcoms. Die Tür fliegt auf, die Schwiegertochter kommt mit Einkaufstaschen, fängt Streit mit der düpierten Schwiegermama an, deren Lebensinhalt nun darin besteht, ihrem alten Gockel und seiner blutjungen, drallen Henne das Leben schwer zu machen. Das Tempo dieser Komiker ist mitreißend, recht freizügig geht es zu, auch wenn man natürlich keine direkten Liebesszenen zu sehen bekommt. Das Schlafzimmerfenster ist puffrot beleuchtet, die Kulissen wackeln, die Angehörigen lauschen an der Tür, wie der Opa seinen dritten Frühling zelebriert. Sein Sohn kräht plötzlich in seinem arabischen Redeschwall "Ich liebe dich" - und dann noch mal "Ich liebe dich", wir haben richtig gehört: ein Gruß an die deutschen Gäste, die in der ersten Reihe sitzen und vom Intendanten eine improvisierte Simultanübersetzung ins Ohr gebrüllt bekommen.
 

Boulevard-Theater in Bagdad, an einem Sonntagabend im April. Ablenkung, obszöne Unterhaltung, Durchhalte-Ulk? Jedenfalls wird da nur ein verschwindend kleines Publikum erreicht, das sich bestens amüsiert. Auf den Straßen von Bagdad ist die Armut mit Händen zu greifen. Spürt man etwas von der Angst vor amerikanischen Bombenangriffen? Nein. Auch in einer Diktatur ist Theater noch ein Rest von öffentlichem Resonanzraum. Doch wir werden in dieser undurchschaubar-exotischen Normalität - Saddam herrscht seit über zwanzig Jahren, das Embargo wurde 1991 verhängt - zunächst auf uns selbst zurückgestoßen. Auf der Suche nach der entscheidenden kulturellen Differenz. Man spricht überall uns auf das Embargo an. Wie wir die Sanktionen begründen...

Gibt es noch Tabus? Im zeitgenössischen Theater des Westens wohl kaum mehr: Seit den sechziger Jahren scheint alles möglich, gleichsam mit und ohne dramaturgisches Kondom. In den Stücken der britischen Dramatikerin Sarah Kane wurde zuletzt die Grenze des physisch wie psychisch noch Erträglichen und Darstellbaren spektakulär überwunden. Politische Tabus sind nahezu restlos gefallen, seit Christoph Schlingensief seine gefälschten Happenings mit echten Asylbewerbern und (Ex-)Neonazis bevölkerte. Von New York bis Berlin waren Eve Enslers "Vagina Monologe" der internationale Hit der letzten Jahre; eine Mischung von Frauenbewegung, Voyeurismus und Talkshow-Manie. "Rocking in a free world" heißt es bei Neil Young, der neuerdings wieder heftige nationalistische Töne anschlägt. In den Reden westlicher politischer Führer nach dem 11. September wurde notgedrungen diese Kunstfreiheit mit verteidigt, als es hieß, die islamischen Attentäter bedrohten die Grundwerte unserer Zivilisation: unser abgeklärtes Entertainment zwischen Voltaire und dem Marquis de Sade.
 

Zwei Wochen lang war das Mülheimer Theater an der Ruhr auf Gastspielreise im Irak (siehe Tagesspiegel vom 10. April), mit Billigung und Unterstützung des deutschen Außenministeriums. Die reiseerprobte Truppe des Roberto Ciulli vollbrachte in Bagdad einen doppelten Übersprung. Sie umspielte das Embargo, das auch Kultur umfasst. Und - zum ersten Mal in der Geschichte des irakischen, wenn nicht des gesamten arabischen Theaters stand eine nackte Frau auf der Bühne. Splitternackt, minutenlang. Vor kurzem noch unvorstellbar - und auch im Nachhinein wirkt es wie eine Fata Morgana.

Ein alter Hut, eigentlich, Peter Handkes "Kaspar" aus dem Jahr 1968. Das Theater an der Ruhr stellt die Geschichte des Findelkinds mit plakativer Geste als Domestizierungsfolter aus. Maria Neumann ist die Kreatur, die zugerichtet und dressiert wird - das unbekleidete Wolfsgeschöpf. Im ausverkauften Al-Raschid-Theater von Bagdad sind wir Zeuge des historischen Tabubruchs. Totenstille im Zuschauerraum. Die arabischen Männer sehen's mit einigem Vergnügen, aber sie halten sich zurück - ebenso die wenigen Frauen im Publikum, die, wie wir später hören, sich durchaus in ihrer Würde angegriffen fühlten. Von den irakischen Behörden wurde die unglaubliche Szene in Kauf genommen: weil man den politischen Nutzen des deutschen Theater-Gastspiels höher schätzt als die Verletzung des Tabus. Schließlich gibt es auch keine Öffentlichkeit, die diese Zumutung unmittelbar debattieren und verbreiten könnte. In den irakischen Zeitungen wurde eher höflich und diskret über die deutschen Darbietungen berichtet. Roberto Ciulli mutierte dabei in seiner Biografie vom Ionesco- zum Unesco-Regisseur.

Doch der langfristige Effekt der deutschen Aufführungen - neben "Kaspar" Brechts "Dreigroschenoper", Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" und Sophokles' "Antigone" - darf dabei nicht unterschätzt werden in einem vollkommen abgeschlossenen Land, das einst das Kultur- und Bildungszentrum der arabischen Welt war.

Dabei fällt uns ein, dass die erste nackte Frau auf einer deutschen Bühne wohl auch erst vierzig Jahre zurückliegt. Am nächsten Abend bekommen wir ein irakisches Stück Avantgarde-Theater gezeigt, den "Apfel des Herzens". Ein politisches Märchen von einiger Obszönität, für unsere Augen: Der alte, herzkranke König verliebt sich in eine junge Frau. Sie ist die einzige, die ihn retten könnte - durch eine Organspende.

Sami Abdul-Hamid ist im Irak ein berühmter Schauspieler und Regisseur. Er mimt den Herrscher als gütigen, etwas schmierigen Onkel. Die Schöne will sich opfern, der König lehnt ab. Schließlich beugen sich beide der Staatsräson. Das Mädchenherz wird transplantiert. Die Untertanin wird bald sterben, der Alte lebt - als Blutsauger in einer politischen Vampirgeschichte. Doch die Iraker betonen die "Menschlichkeit" des Dramas. Das Avantgardistische liegt wohl in einigen abrupten Szenenwechseln und den inneren Monologen; und bis zu ihrer Opferung tritt die junge Frau durchaus selbstbewusst auf. Sie entscheidet selbst. Über ihr Schicksal und das des Königs. Sinnbild für Saddams Herrschaft und die Haltung des irakischen Volks?
 

Vor allem Deutsch-Studenten waren es, die das Gastspiel des Theaters an der Ruhr wie eine Offenbarung erlebten. Wo Mülheim liegt, wollten sie wissen. In der Nähe von Köln und Bonn, antworten wir. Also ein Hauptstadt-Theater, fragen die Studenten weiter. Nein, die deutsche Hauptstadt ist wieder Berlin, seit zehn Jahren, erklären wir. Das könne nicht sein, sagen die jungen Männer, die Hauptstadt Deutschlands sei doch Bonn. Denn dort sitzt schließlich die irakische Botschaft. Immer noch.

Roberto Ciullis Karawane zieht weiter. Im Mai gastiert am Berliner Ensemble "Bernarda Albas Haus", Ciulli hat die Tragödie von Garcia Lorca in Teheran mit iranischen Schauspielern erarbeitet. Ein irakisches Ensemble aus Bagdad war auch schon in Mülheim. Etappen auf dem langem Marsch eines wahrhaft Verrückten: Eine mobile Aufführung von Goethes "Faust" entlang der alten Seidenstraße, das ist Ciullis Vision. Ein Jahr on the road, und ein gutes Stück des Wegs führt über die "Achse des Bösen". Im Iran, in Usbekistan, im Irak sind die Kontakte geknüpft. Vater Courage aus Mülheim überwindet diplomatische Schwierigkeiten und kulturelle Tabus mit der lustigen Zähigkeit eines alten Clowns. Er folgt einem Traum.

Kulturreisen bewegen sich meist auf der helleren, weichen Seite. Draußen, vor dem Al-Raschid-Theater, steht Tag und Nacht ein MG-Posten, die Straße wird nach Einbruch der Dunkelheit abgesperrt. Dahinter liegt ein Fernsehkomplex. Und eine Kaserne.