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Ausblenden wichtiger Zusammenhänge
Hans Branscheidt (medico), Sa., 3 März 2001
Antwort auf eine
Erwiderung von Joachim Guilliard

Lieber Joachim Guilliard,

Ich danke für Deine Erwiderung. Daran fällt mir eine rationalisierende Sprachfigur zuerst auf, die symptomatisch ist für das Ausblenden wichtigster Zusammenhänge, nämlich: man könne einen Sachverhalt leider nicht immer "in allen Aspekten" beleuchten. Ein nach allen internationalen Kriterien - gerade auch der Vereinten Nationen - verübter Völkermord, in diesem Fall den flächendeckenden Einsatz von hochtoxischen chemischen Kampfstoffen, für die das know how nachweislich aus der Bundesrepublik stammt, ist aber genau so wenig nur ein "Aspekt" wie die Tatsache der Einrichtung von KZ's eine nicht zu berücksichtigende Kleinigkeit des Naziregimes gewesen ist. Es verwundert deshalb sehr, daß gerade auch die an Deinem Irak-Aufruf beteiligten Völkerrechtler und Akademiker die ihnen wohlbekannten sogenannten Anfal-Dokumente über die diversen Vernichtungsaktionen des Saddam Regimes vergessen zu haben scheinen, obwohl diese ihnen per Buch, umfassender und aufwendiger Untersuchung (Human Rights Watch) oder auch in digitalisierter Form online zur Verfügung stehen. Es handelt sich dabei um die Originaldokumente des militärischen Apparates des Regimes von Bagdad samt den expliziten Einsatzbefehlen, die Sarin und Tabun-Derivate nicht nur im Falle von Halabja einzusetzen, sonjdern noch auch in den meisten anderen kurdischen Territorien (Koysanjak) im Lande.

Daß das Irak-Embargo falsch und unmenschlich ist, wird nicht nur von den Unterzeichnern des Aufrufes erkannt, sondern gerade auch die irakische Opposition (gleich welcher Herkunft) ist lange vor euch zu dieser Erkenntnis gelangt, allerdings verbinden diese nach wie vor Lande grausam unterdrückten und gefolterten Kräfte solche Ansicht mit demokratischen Forderungen und Modellen für einen zukünftigen Irak, die wir nicht zu ignorieren haben. Die von euch suggerierte Annahme, daß über eine demokratische Entwicklung erst dann gesprochen werden kann, wenn zuvor dem Regime großzügig dabei geholfen werden soll, "normale Handelsbeziehungen" zu China und Rußland zu eröffnen (wofür ihr euch bei der Bundesregierung eigens glaubt stark machen zu müssen), übersieht beim Insistieren auf eine solche Reihenfolge, daß der demokratische Kampf von andern längst eröffnet wurde: ihr verschweigt das nur.

Übrigens ist auch Israel in diesem Zusammenhang nicht nur einer jener "Aspekte", den ihr meint übersehen zu können. Mag es auch so sein, daß im Augenblick die irakische Militärmaschine kaum in der Lage sein dürfte, Attacken auf Israel zu lancieren, so sind doch die Drohungen und verbalen Bekundungen des Regimes in Bagdad, Israel vernichten zu wollen, in den letzten beiden Wochen für mich nicht überhörbar gewesen - und diese Drohungen würde ein Saddam auch in die Tat umsetzen, sobald er dazu imstande wäre. Wie gerade dieser Umstand übersehen werden kann in einem zeitgenössischen Aufruf der Friedensmeister aus Deutschland, ist für mich eine friedenspolitische Blamage.

Inzwischen haben sich eine ganze Reihe von Kommentatoren bei mir gemeldet. Darunter auch kritische Stellungnahmen der nicht nur kurdischen Betroffenen, Parteien und Organisationen der Unterdrückten Gruppen und Ethnien des Irak: die entsetzt sind über die prekären Auslassungen des Aufrufes. Auch ich werde diese Reaktionen sammeln und danach veröffentlichen und abschließend ausführlich kommentieren.

Peinlich ist mir auch, daß euer Aufruf termingerecht zum Jahrestag der fast vollständigen Zerstörung von Halabja erscheint, in Ansehung einer für die nächste Woche bevorstehende Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS, die an den Tag erinnert und die überfällige Reparationsleistungen der deutschen Regierung für die Opfer verlangt. Ihr wäret glaubhaft gewesen, hätte ihr diese Umstände berücksichtigt, statt sie einfach zu verschweigen.

Herzlichst
Hans Branscheidt

P.s. Der von euch eingangs hervorgehoben zitierte frühere US-Justizminister Ramsey Clark ist als frenetischer Freund und Befürworter des Diktators Milosevic ganz sicher kein Pazifist oder sonstwie als Kronzeuge der deutschen Friedensbewegung geeignet.